In die Gegenwart katapultiert
Die Musikhochschule Stuttgart spielt eine Oper von Francis Poulenc im Wilhelma-Theater – eine ungewöhnliche Stückwahl.
„Und die Musik? Nun, die ist von Poulenc!“, sagte Régine Crespin, als man sie um ihre Meinung zu „Dialogues des Carmélites“ bat. Alles weitere dazu erübrige sich, gab die französische Sopranistin, die schon an der Uraufführung dieser Oper mitgewirkt hatte, dem Fragenden zu verstehen. Von Poulenc! Besser geht’s nicht, so durfte man die Primadonna interpretieren.
Tatsächlich wird der 1899 in Paris geborene und 1963 ebenda verstorbene Komponist in seinem Heimatland geradezu verehrt, und dass Francis Poulenc in Deutschland eher eine Randerscheinung im Musikleben ist, zeigt abermals, wie unterschiedlich selbst Nachbarländer ihre Schwerpunkte setzen. Aber immerhin: Auch hierzulande erscheinen die „Gespräche der Karmelitinnen“ recht regelmäßig auf einer Bühne, und das ist für eine 1957 uraufgeführte Oper eine reife Leistung – das gängige Repertoire endet ja mehr oder weniger beim „Rosenkavalier“, fast ein halbes Jahrhundert vorher.
Poulencs Bühnenwerk geht auf historische Ereignisse zurück, die die deutsche Schriftstellerin Gertrud von le Fort in der Novelle „Die Letzte am Schafott“ literarisch verarbeitete. Nach dieser Novelle entstanden zunächst ein Drehbuch, dann ein Theaterstück, das bereits den späteren Operntitel trug. Auf dieser Basis schrieb der Komponist sein Opernlibretto, das fast nur aus rezitativisch gestalteten Gesprächen der Nonnen besteht. Aber was für Gespräche das sind! Es wird gerungen um den rechten Glauben, das Märtyrertum wird diskutiert, und über allem drohen die Ängste, die die französische Revolution und ihre Radikalität gegenüber den religiösen Institutionen in den Klosterfrauen bewirken. Schließlich wird das Kloster aufgelöst, die Nonnen werden hingerichtet.
„Dialogues des Carmélites“ ist eine ungewöhnliche Wahl für eine Hochschulproduktion; die Hauptrollen werden in den Opernhäusern meist mit verdienten Sängerinnen besetzt, manchmal gar als Starvehikel gebraucht. „Aber unsere Studentinnen sind ja zukünftige Stars!“, sagt die Regisseurin Franziska Severin, die Poulencs Oper im Wilhelma-Theater auf die Bühne bringt. Natürlich sei es etwas Besonderes, dass in diesem Werk die Frauen derartig im Mittelpunkt stehen, erklärt Severin. Das kann man pragmatisch sehen – es gibt derzeit an den Musikhochschulen schlicht mehr Gesangsstudentinnen als Studenten –, aber die Stückwahl hat auch eine inhaltliche Seite, die der Regisseurin wichtiger ist. Das Regieteam habe sich, nach ausgiebiger Beschäftigung mit den religiösen Themen der Oper, auch die Frage gestellt, wo noch heute Frauen für ihre Werte in den Tod gehen. Deshalb würden die mit originalen, von einem Würzburger Kloster ausgeliehenen Ordenstrachten bekleideten Nonnen am Ende des Werks „in die Gegenwart katapultiert“, sagt Franziska Severin.
In seiner Komposition hat Francis Poulenc, der aus seiner Homosexualität kein Geheimnis machte und dennoch zum katholischen Glauben zurückgefunden hatte, in die meisterhaft gestalteten „Gespräche“ zahlreiche religiöse Gesänge integriert. Auf dem Weg zum Schafottstimmen die Nonnen ein „Salve regina“ an, beseelt von der Idee des Märtyrertums, aber Poulenc setzt ebenso die gnadenlosen Schläge der Guillotine in Musik. Wenn das Sujet dieser Oper jemals kitschgefährdet war, hat der Komponist dies durch seine vielleicht einmalige Verbindung von musikalischer Eleganz und einer Authentizität, die mühelos bis in die Gegenwart weiterwirkt, umgangen. Besser geht’s nicht – da hatte Madame Crespin ganz recht.
Jürgen Hartmann
Dialogues des Carmélites // 8., 10., 12., 14., 16., 26., 28., 30. Juni / Wilhelma Theater / Karten für Mitglieder. 20-29 Euro