Der Kosmos der Musik
Der Komponist György Ligeti
Zum 100. Geburtstag am 28. Mai
Rund drei Minuten lang wird der Kino-Zuschauer mit dem visuellen Nichts konfrontiert und ist umso stärker den akustischen Wahrnehmungen ausgesetzt. Klangflächen entwickeln sich in subtiler Kleinteiligkeit, die Musik ist mehr ein statisches Rauschen als ein dynamisches Geschehen. Das An- und Abschwellen der Lautstärke vollzieht sich so fein differenziert, dass es als singuläres Ereignis ebenso schwer fassbar ist wie das Wechseln der Instrumentalfarben.
Mit seiner Orchesterkomposition „Atmosphères“ hat der aus Ungarn stammende Komponist György Ligeti im Jahr 1961 einen gewaltigen Entwicklungsschritt gemacht und der amerikanische Regisseur Stanley Kubrick hat Ligetis Meisterwerk in dem Spielfilm „2001 – Odyssee im Weltall“ quasi über Nacht weltbekannt gemacht. Einen persönlichen Dialog hatten die beiden Herren allerdings wohl nie, wie Ligeti vor gut 20 Jahren in einem Interview meinte: „Ich habe Kubrick nie persönlich getroffen, obwohl er meine Musik öfters verwendet hat. Dafür bin ich dankbar, weil ich ihn für ein Genie halte. Trotzdem war sein Umgang mit mir alles andere als in Ordnung. […] Ich verehre Kubricks Kunst, nicht aber seinen Egoismus und die Missachtung von Menschen.“
Blickt man aus heutiger Perspektive zurück auf den Werdegang Ligetis, nimmt man ihn als einen Suchenden wahr, der gängige Formen grundsätzlich in Zweifel zog, sie zugleich ausgiebig reflektierte und sich dank seiner analytischen Fähigkeiten und theoretischen Kenntnisse mühelos bei allem bedienen konnte. Dabei waren die Ausgangsbedingungen für ihn bis zu seiner Emigration 1956 nicht gut, denn hinter dem Eisernen Vorhang war er von den Debatten und stilistischen Experimenten der westeuropäischen Avantgarde abgeschnitten.
So muss sein Aufeinandertreffen mit Karlheinz Stockhausen, dem Übervater der elektronischen Musik, in Köln regelrecht ein Erweckungserlebnis gewesen sein. Doch György Ligeti ging mit einer gehörigen Portion Skepsis und Zweifel an die für ihn neuen Bedingungen in einem veränderten Umfeld heran. In seinem Standardwerk „Moderne Musik nach 1945“ beschreibt der Musikjournalist Ulrich Dibelius ihn als jemanden, der nach seiner eigenen Sprache sucht. Das erklärt vielleicht auch, warum Ligeti sich am Ende der 1950er Jahre vor allem mit sprachnaher Musik beschäftigt. Von „polyglottem Reden“, von „Plappern und Tuscheln“ in monologischer und dialogischer Struktur sei die Komposition „Artikulation“ geprägt und stelle eine „künstliche Sprache“ in einer Aneinanderreihung „klanglicher Aggregatzustände“ dar.
Verfolgt man diesen Sprach-Ansatz in der Musik weiter, entdeckt man in dem eingangs erwähnten Werk „Atmosphères“, das 1961 bei den Donaueschinger Tagen für Neue Musik uraufgeführt wurde, einen radikalen Perspektivwechsel, denn seine musikalische „Sprache“ differenziert sich immer weiter aus. Die Einzelstimme, der Klang eines singulären Instruments wird zum Auslöser für kompositorische Prozesse. In den frühen 1960er Jahren treibt Ligeti das auf die Spitze, wobei er das eigene kompositorische Tun immer auch einer Selbst-Analyse unterzieht und in seinem musiktheoretischen Essays mit großer Schärfe zu Werke geht.
Schritt für Schritt erarbeitet sich Ligeti neue Praktiken, untersucht die Reihenbildung der Seriellen Musik, zergliedert und fragmentiert im zentralen „Dies Irae“-Satz aus seinem „Requiem“ (1964) das Geschehen bis hinunter auf die Ebene mosaikartiger Steinchen, nur um kurz darauf in „Lontano“ mit subtilen dynamischen Staffelungen zu arbeiten, die schillernde Raumwirkungen ergeben. Kritiker vermissten in diesem Ansatz einen unverwechselbaren Personalstil. Doch Ligeti rechtfertigte sich in einem Gespräch mit seinem Komponistenkollegen Manfred Stahnke im Jahr 1993: „Ich habe keine Kunsttheorie. Deswegen sind viele Leute enttäuscht. Ich habe keine ‚message‘, die ich verkünde. Man kann mich nicht festnageln auf eine einheitliche, verbal ausdrückbare kompositorische Theorie. Sondern ich versuche immer neue Dinge auszuprobieren. Deswegen habe ich es einmal so dargestellt: Ich bin wie ein Blinder im Labyrinth, der sich herumtastet und immer neue Eingänge findet und in Zimmer kommt, von denen er gar nicht wusste, dass sie existieren. Und dann tut er etwas. Und er weiß gar nicht, was der nächste Schritt sein wird.“
Immer wieder arbeitet Ligeti also an seiner „Identitätsvermeidung“, wie Ulrich Dibelius das charakterisiert und setzt auf die Dialektik von „Klärung und Verwischung“: Betrachtet man seine Kompositionen aus mikroskopischer Nähe, entdeckt man eine so ungeheure Vielfalt an Details, dass diese kaum noch erfassen sind. Geht man jedoch auf Distanz und lässt die Stücke als Ganzes auf sich wirken, wird dieser polyglotte Stil aus Andeutungen, Zitaten, Formbewusstsein und radikalen Brüchen zu einer amorphen Masse, die in ihrem Schillern ebenso verführerisch und geheimnisvoll ist wie das Bild des leeren Weltalls in Kubricks „2001“.
Markus Dippold
Werke von György Ligeti präsentiert das SWR Vokalensemble am 25. Mai in der Friedenskirche Ludwigsburg im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiel.
Karten für Mitglieder: 26,50-37 Euro
Weitere Konzerte mit Werken von Ligeti: Stuttgarter Kammerorchester, 21. Juni, Hospitalhof; SWR Vokalensemble, 22. Juni, Mozart-Saal