Volle Seelenweide
Werke C. P. E. Bach bis Peteris Vasks in zwei Konzerten mit dem Stuttgarter Kammerorchester
Frisch zurück von einer zweiwöchigen Tournee in China, präsentiert sich das Stuttgarter Kammerorchester im Juni mit zwei ganz unterschiedlichen Konzerten im Theaterhaus und im Hegel-Saal der Liederhalle. Mit »Philosophie und Musik« ist das Programm am 13. Juni, geleitet von Chefdirigent Matthias Foremny, überschrieben: Sowohl Carl Philipp Emanuel, der zweite der Bach-Söhne, als auch Leonard Bernstein und Peteris Vasks lassen sich mit diesem Motto in Verbindung bringen. Vasks gehört wie Arvo Pärt und Erkki-Sven Tüür zu den großen baltischen Unzeitgemäßen der Gegenwartsmusik. Der lettische Komponist, Sohn eines Baptistenpredigers, war während der Herrschaft des Kommunismus Außenseiter in der Musikszene seiner Heimat. Nach anfänglicher Orientierung an Schostakowitsch, Lutoslawski und Penderecki entwickelte er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer stärker einen nach Harmonie strebenden Personalstil. »Musik ist ein Gottesgeschenk«, bekannte Peteris Vasks erst kürzlich bei einem Porträtkonzert am Vorabend seines 72. Geburtstags in der Cannstatter Stadtkirche.
Seine aus dem Gegensatz zwischen menschenfeindlichen Gegenwartskräften und idealer Humanität wirkende, tief emotionale Klangsprache prägt auch die 1996 entstandene »Musica adventus « für Streichorchester – eine Bearbeitung seines dritten Streichquartetts mit dem Thema »Friede auf Erden«. Aus der Stille sich entfaltend, berühren die lyrisch-expressiven Klangbilder eindringlich. Spiritualität und das Bestreben »der Seele Nahrung zu geben« ist dieser Musik eingeschrieben. Auch hier folgt Peteris Vasks seiner kompositorischen Mission, »zum Gleichgewicht der Welt beizutragen und dabei zu helfen, sie auf dem so steilen Abhang stabil zu halten«.
Spiritualität und philosophisches Programm würden die wenigsten Fans der »West Side Story« vom 1990 verstorbenen Komponisten Leonard Bernstein erwarten. Doch Bernstein hat nicht nur die »Chichester Psalms« und drei hierzulande zu selten aufgeführte Sinfonien mit den Beinamen »Jeremiah«, »The Age of Anxiety« und »Kaddish« komponiert, sondern auch ein Violinkonzert mit dem programmatischen Titel »Serenade nach Platons Symposium«. Das für seinen Freund, den Geiger Isaac Stern, komponierte Werk bezieht sich auf die Dialoge über das Wesen des Eros in Platons »Gastmahl«; in den fünf Sätzen des Konzerts werden die Philosophen und ihre Reden charakterisiert: Phaidros und Pausanias, Aristophanes, Erixymachos, Agathon, Sokrates und Alkibiades – mit dem Fazit: »Liebe ist die Zeugung des Schönen im Körper wie im Geiste.« Wie bei Platon, wo jeder auf seinen Vorredner Bezug nimmt, werden auch hier die musikalischen Themen kontinuierlich entwickelt, die Solo-Violine setzt mit einem zarten lyrischen Motiv ein. Solistin im Konzert des Stuttgarter Kammerorchesters ist die moldawische Geigerin Alexandra Conunova, Preisträgerin des Joseph-Joachim-Wettbewerbs und der Moskauer International Tschaikowsky Violin Competition.
Erst in letzter Zeit – vor allem seit dem Jubiläumsjahr seines 300. Geburtstags 2014 – wird die besondere Stellung Carl Philipp Emanuel Bachs zwischen Barock, Sturm und Drang und Wiener Klassik wieder entsprechend gewürdigt. Zu diesem Anlass hat das Stuttgarter Kammerorchester seine sechs »Hamburger Sinfonien« eingespielt, die fünfte davon bildet den Auftakt zu Bernstein und Vasks. Exzentrisch, melancholisch, wild, voller Subjektivität, Empfindsamkeit, Temperament ist diese Musik, von der ein Zeitgenosse schrieb: »Wer Sinn dafür hat, einen so wahrhaftig großen Orchesterkomponisten wie unseren Bach, seinen ganz eigenen freyen, durch keine Kostüme, keine Mode gefeßelten Gang gehen zu sehen, der findet volle Seelenweide an diesen herrlichen, in ihrer Art ganz eigenen Sinfonien.«
Von C. P. E. Bachs 1773 erschienenen Streichersinfonien zu Mozarts 1779 in Salzburg komponierter B-Dur-Sinfonie ist zeitlich nur ein kleiner, musikalisch jedoch ein gewaltiger Schritt. Fast ein halbes Jahr hatte Mozart nach seiner Entlassung aus dem Dienst des Salzburger Fürsterzbischofs in Mannheim im Umkreis der berühmten Hofkapelle verbracht, sich in die Sängerin Aloisia Weber verliebt, in Paris den Tod seiner Mutter betrauert, bevor er kurz vor seinem 23. Geburtstag wieder in Salzburg zurück war und eine Stelle als Hoforganist antrat. Seine musikalischen und persönlichen Erfahrungen dieser Zeit schlagen sich auch im Ausdruckscharakter dieser Sinfonie nieder – im »Mozart-Fest« mit Richard Egarr am 24. Juni ist es das Hauptwerk neben dem 1784 entstandenen G-Dur-Klavierkonzert KV 453. Der britische Pianist und Dirigent Richard Egarr, seit 2006 Leiter der Academy of Ancient Music, gilt als eigenwilliger Repräsentant historischer Aufführungspraxis, dessen Idee von Authentizität frei von jeder dogmatischen Engstirnigkeit ist. Emotionalität und Einfühlung sind für ihn Teil jedes Konzerts: »Es geht immer um Interpretation. Musik aufzuführen kann nicht nur darin bestehen, sie ‚richtig‘ zu spielen.« Diese Lebendigkeit des Musizierens wird im Konzert mit dem Stuttgarter Kammerorchester auch den frühen Sinfonien Mozarts in B-Dur (1765) und G-Dur (1771) sowie Richard Egarrs Darbietung der Fantasie d-Moll KV 397 auf dem Hammerklavier zugutekommen.
Dietholf Zerweck