Unter den Rädern
Studio Theater zeigt Hauptmanns Drama »Bahnwärter Thiel«
Es passiert in armen Haushalten, aber auch in den besten Familien: In der 1888 verfassten naturalistischen Novelle »Bahnwärter Thiel« setzt sich Gerhart Hauptmann mit Kindesmisshandlung, sexueller Abhängigkeit und den Zwängen der Klassengesellschaft auseinander. Christof Küster hat die Erzählung für den intimen Raum des Studio Theaters sehr dicht in Szene gesetzt.
Hier spiegeln sich die einengenden, determinierenden Verhältnisse der Gesellschaft augenfällig wider. Johannes Schüchner, Marie Mayer und Karlheinz Schmitt schlüpfen in die Rollen des grüblerischen Bahnwärters Thiels, seiner ungeschlachten Frau Lene und des kleinen Sohns T obias. Zugleich übernehmen alle drei die Rolle des Erzählers. Hauptmanns novellistische Studie basiert auf einem wahren Vorfall – einem Unglück an der Bahnstrecke von Erkner nach Fürstenwalde. Die Erzählung »Bahnwärter Thiel« bildete den Auftakt von Gerhart Hauptmanns Laufbahn als Meisterautor des Naturalismus. 1889 gründete er den dramatischen Verein »Freie Bühne« und konnte nun seine Stücke zensurfrei aufführen.
Als weitere Höhepunkte folgten »Vor Sonnenaufgang«, »Die Weber« und »Die Ratten«. 1912 erhielt er den Nobelpreis. Hauptmanns Novelle spielt in seiner Heimat Erkner bei Berlin. Hier versieht der Bahnwärter Thiel gewissenhaft seinen eintönigen Dienst. Nachdem seine kränkliche Frau Minna verstorben ist, hat er mit der rohen Magd Lene (Marie Mayer: schroff und herrisch) das genaue Gegenmodell geheiratet. Aus seiner ersten Ehe mit Minna stammt sein Sohn Tobias, und ihm zuliebe geht er letztlich die neue Ehe ein. Doch er verfällt sexuell der machtbesessenen Lene. So will er es sich dann auch nicht eingestehen, dass Lene seinen Sohn Tobias quält, den er trotz widriger Umstände gern liebevoll erziehen würde. Der kleine Tobias (Karlheinz Schmitt), der mit großen Augen in die Welt schaut und nicht weiß, wie ihm geschieht, dient Lene als Punchingball zum Ablassen des ganzen Frusts, der sich in ihrem harten Arbeiteralltag angestaut hat. Ein Dutzend Boxsäcke hängen dann auch als Requisiten von der Bühnendecke herab. Im Laufe des Stücks verwandeln sie sich in Schaukeln, Spielzeuge, Lasten, Lenes Baby und sogar Holzschwellen von Schienen.
Anstatt sich aufzulehnen und einzugreifen, flüchtet sich Thiel in die Einsamkeit seines Bahnwärterhäuschens und verliert sich immer mehr in nächtliche Träume von Minna, seiner ersten Frau. Die mystischen Elemente und Hauptmanns stimmungsintensive Natursymbolik, die über den Naturalismus hinausgreifen, erfasst Christof Küster mit Hilfe von Projektionen, die unstet auf den Oberflächen der Requisiten und über die verrußte Bühnenrückwand flackern. Auch das brutale Symbol der Eisenbahn ist allgegenwärtig, die Figuren scheinen in die Schienen ihrer Herkunft und ihrer Arbeitsbedingungen gepresst. Das fragwürdige Gleichgewicht in der Familie gerät aus den Fugen, als der Bahnwärter Thiel einen Streifen Land zum Geschenk erhält, den Lene als Kartoffelacker nutzen möchte. Dieser befindet sich am Bahnwärterhaus, somit droht Lene plötzlich in die abgeschiedene Sphäre seiner Erinnerungen einzudringen. Für den kleinen Tobias ist alles ein riesiges Abenteuer. Doch der Ausflug mündet in eine Katastrophe – sei es aus Gründen von Unachtsamkeit oder sogar aus Absicht. Die verdrängten Gefühle des Bahnwärters Thiel brechen sich nun gewaltsam Bahn. Wie es dazu kommt, hat das Ensemble des Studio Theaters eindrucksvoll erkundet.
Anne Abelein