„Über das Erwartbare hinausgehen“
Seit 20 Jahren gibt es bei der Kulturgemeinschaft die Bau-Geschichte(n). Michael Wenger hat die Sparte 2003 ins Leben gerufen. Seitdem hat er rund 400 Themen entwickelt, die rund 20.000 Menschen begeisterten. Im Interview blickt er zurück – auf die Entwicklung der Bau-Geschichte(n), aber auch auf seinen eigenen Weg als Kunstvermittler.
20 Jahre Bau-Geschichte(n) – das ist für Sie als Schöpfer dieser Sparte im Programm der Kulturgemeinschaft auch ein persönliches Jubiläum. Deshalb beginne ich mit ein paar persönlichen Fragen: Welches Bauwerk war denn für Sie das erste bewusst erlebte Kunsterlebnis?
Ich bin in Ingelheim bei Mainz aufgewachsen und habe schon als Kind vor der Kulisse von Kaiserpfalz und Burgkirche gespielt. So etwas prägt. Mein erstes bewusstes Kunsterlebnis war der Mainzer Dom. Den habe ich in der Grundschule besucht. Während meine Mitschüler eher desinteressiert wirkten, war ich völlig hingerissen. Wenn mein Vater in diesen Jahren fragte, wo die Familie am Wochenende hinfahren möchte, dann wollte ich nicht in Freizeitparks, sondern Kirchen und Schlösser anschauen.
Was hat Sie nach Stuttgart gebracht?
Das Studium. Ich habe hier mit Kunstgeschichte und Germanistik begonnen. Später wechselte ich nach München, dann nach Heidelberg und schließlich wieder nach Stuttgart.
Wann haben Sie Ihre erste Führung gehalten?
Das war in den frühen 80er-Jahren. Man kann also sagen: Ich bin früh dem Führungswesen anheimgefallen (lacht). 1993 begann ich mit den Sonderführungen der Staatlichen Schlösser und Gärten, die ich bis 2006 verantwortet habe.
Die Magisterarbeit ist ja ein wichtiges Thema in jedem Kunsthistoriker-Leben. Welches Thema haben Sie gewählt?
„Die Gärten des Schlosses Solitude bei Stuttgart“. Eine andere für mich unvergessliche Publikation entstand ein paar Jahre später auf der Basis eines vorangegangenen Praktikums im Alten Schloss: „250 Jahre Neues Schloss. Entwürfe und Ausstattungen von Herzog Carl Eugen bis König Wilhelm II“.
Bleiben wir kurz bei den Publikationen: Sie haben über 100 Bücher und Aufsätze veröffentlicht – ein guter Teil davon ist auf Ihrer Website verzeichnet – welche Publikation ist Ihr Lieblingskind?
Mein Lieblingskind war zugleich auch die schwerste Geburt: Der Katalog „Karl Ludwig Zanth. Der Baumeister der Wilhelma in seiner Zeit“ zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Heimat in Stuttgart. Wir hatten für die ganze Ausstellung samt Publikation nur siebeneinhalb Monate Zeit.
1996 kamen Sie freiberuflich zur Kulturgemeinschaft. Sieben Jahre später haben sie dort die Sparte „Bau-Geschichte(n)“ ins Leben gerufen, die ja heute eine der drei tragenden Säulen des Programms ist. Wie kam es dazu?
Als ich bei der Kulturgemeinschaft anfing, war die Architektur noch bei einer Kollegin angesiedelt. Ich musste mir also zunächst eine Lücke suchen, die von niemand anderem besetzt war – und das waren die Kirchen. Irgendwann war ich bei der Kulturgemeinschaft der „Kirchen-Wenger“. Wolfgang Milow, der damalige Chef der Kulturgemeinschaft, fragte mich eines Tages: „Können Sie sich vorstellen, ein Architekturprogramm für uns anzubieten?“ Als ich ihm das Konzept für die „Bau-Geschichte(n)“ vorlegte, sagte er nur: „Das machen wir“.
Die Bau-Geschichte(n) sind – wie das ganze Kunst-Abo – etwas Einzigartiges, das man in dieser Form deutschlandweit vermutlich selten – und dann schon gar nicht in dieser Angebotsfülle – finden wird. Was ist für Sie persönlich der Reiz daran?
Der Reiz besteht darin, immer wieder über das Erwartbare, das Bekannte und Abgesegnete hinauszugehen und immer wieder Experimente zu wagen. Das gilt übrigens auch für die Kunsttage, die ja zu einem guten Teil auf den Bau-Geschichte(n) aufbauen.
Von den rund 400 Bau-Geschichte(n) der letzten 20 Jahre wurden etwa 40 wegen des großen Erfolgs wiederholt. Gibt es auch Themen die heute nicht mehr möglich wären?
Ja, die gibt es. Zum Beispiel der Hauptbahnhof, der obere Schlossgarten und etliche Siedlungen im Stuttgart Osten, darunter die Ostenau, die inzwischen komplett „zugedämmt“ ist. Auch das Neue Schloss ist nicht mehr zugänglich. Das ist schmerzhaft.
Wenn Sie auf die Bau-Geschichte(n) der vergangenen zwanzig Jahre wie auf die Auslage in einer Konditorei blicken: Welches Stück picken Sie für sich heraus – mit anderen Worten: Welche Bau-Geschichte war für Sie persönlich besonders wichtig?
Die Solitude ist immer wieder ein Höhepunkt. Wenn man den Schlossführer geschrieben hat, ist man natürlich besonders innig mit diesem Bauwerk verbandelt (lacht). Auch die verlorenen Gärten der Solitude gehören dazu. Wenn ich die Gärten erwähne, hießt es anfangs oft: „Da gibt’s doch nichts mehr“. Doch die Menschen, die sich mit mir auf Spurensuche begeben haben, waren nach einer Führung stets begeistert.
Andere Menschen begeistern – das ist nicht nur eine Begabung, dazu gehört auch eine Haltung. Was motiviert Sie?
Die Energie entsteht im Reden, ist also quasi selbstentzündlich. Je besser die Gruppe mitmacht, desto höher kann ich mich schaukeln. Mein Ziel ist es, dass die Leute ihre architektonische Umgebung anders wahrnehmen: verschärft, kritisch, positiv, negativ. Ich möchte dazu beitragen, das Sehen zu schärfen. Mir liegt auch daran, in einer – trotz hoher Architekten-Dichte – architekturvergessenen Stadt wie Stuttgart, die Meister der Vergangenheit aus der Versenkung zu holen.
An wen denken Sie da?
Zum Beispiel an Zanth, der bis dato als Baumeister nur mit der Wilhelma in Verbindung gebracht wurde, an Joseph von Egle oder an Karl Beer. Da gibt es natürlich einige mehr. Ich denke aber auch an die Architektur der Nachkriegszeit, die man häufig noch immer allgemein als „scheußlich“ abtut.
Wie reagiert Ihr Publikum auf solche Entdeckungen?
Die gehen da mit und finden das toll! Zum Beispiel beim Beton-Brut der Nikolaus-von-Flüe-Kirche in Gablenberg oder der Friedenskirche am Stöckach oder der Versöhnungskirche in Degerloch oder oder oder …. Bei diesen Rundgängen werden wir zu einer Architekturgemeinschaft. Ich glaube, das erleben auch meine Kolleginnen und Kollegen ähnlich. An den Fragen merke ich, dass die Leute plötzlich anders sehen. Es gab schon Teilnehmende, die sagten: „Seit ich die Bau-geschichte(n) mitmache, habe ich das Gefühl, in einer anderen Stadt zu leben.“ Ich freue mich auch jedesmal, wenn die Leute nach der Führung noch zusammenstehen und plaudern.
Gibt es Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die schon 20 Jahre bei den Bau-Geschichte(n) dabei sind?
Ja, die gibt es. Mein Assistent wundert sich manchmal, wenn ich die Leute gleich mit Namen begrüße. Aber man kennt sich nun mal nach all den Jahren. Trotzdem sind wir kein elitärer Club, in den man nicht reinkommt. Im Gegenteil: Alle sind eingeladen, dabei zu sein.
Sie sind ein Mensch, der überschwänglich loben, aber auch verdammen kann. Beginnen wir beim überschwänglichen Loben. Was steht bei Ihnen da ganz oben?
Ein Gebäude und ein Garten: Das Gebäude ist die Amalienburg und der Wörlitzer Park. Vor beiden Werken habe ich unendlichen Respekt. Wenn man mich lässt, dann komme ich aus dem Erzählen gar nicht mehr heraus.
Was ist aus Ihrer Sicht das architektonisch hässlichste Gebäude Stuttgarts?
Ach, da gibt es einige, die bei mir um diesen Ehrentitel konkurrieren (lacht). Das wechselt bei mir auch manchmal, je nach Perspektive. Deshalb möchte ich hier kein konkretes hervorheben.
Können Sie sich ein Leben ohne Kunst vorstellen?
Nein! Aber ich wünsche mir manchmal Auszeiten. Wenn ich einen Text verfasse oder ein neues Kulturprogramm entwickle, würde ich manchmal gerne, zumindest zeitweise, mein Denken abschalten. Manchmal stehe ich mitten in der Nacht auf, weil ich Gedanken notieren muss. Das strengt an.
Wechseln wir von der Anstrengung zur Feierlaune: Gibt es ein besonderes Jubiläumsprogramm?
Selbstverständlich. Es wird zweigegliedert sein. Zum einen bieten wir „Klassiker“ an, die besonders gut ankamen oder mir persönlich viel bedeuten. Die zweite Hälfte der Themen ist mit dem Fokusthema verknüpft, das in dieser Saison das 19. Jahrhundert ist. Ein extrem spannendes Thema! Die Heterogenität, die wir heute erleben, wurde in dieser Zeit geboren.
Gibt es noch mehr Extras?
Ja, wir planen ein „Sonderkunsterlebnis“. Das Thema lautet „Palais Grävenitz. Mätressen und Günstlinge von A bis Z“. Das darf man wörtlich nehmen. Die Reihe führt von Amalie von Stubenrauch bis zu Johann Carl von Zeppelin. Es lohnt dabei zu sein!
Michael Wenger rief vor 20 Jahren die Sparte „Bau-Geschichte(n)“ ins Leben. Geboren in Mainz, kam er 1982 nach Stuttgart, um hier ein Freiwilliges Soziales Jahr zu absolvieren. Er studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Stuttgart, München und Heidelberg und schloss mit einer Magisterarbeit zum Thema „Die Gärten des Schlosses Solitude bei Stuttgart“ ab. Während eines Praktikums im Alten Schloss führte er zum ersten Mal ein größeres Publikum. Er arbeitete zunächst in der Galerie Keim in Bad Cannstatt, war 15 Jahre lang freiberuflich tätig, kam 1996 zum Kunst-Abo und verantwortet letzteres seit 2017.