Tropfen im Ozean
Können private Hilfen für Künstler einen Totalschaden der Kultur abwenden?
»Wir bekommen täglich Anfragen«, sagt Joe Bauer, der mit seiner KünstlerInnensoforthilfe Stuttgart seit März bereits mehr als 400.000 Euro an Spenden gesammelt hat. Der Autor, stadtbekannt durch seine Kolumnen, früher in den Stuttgarter Nachrichten, heute in der Wochenzeitung Kontext, durch seinen Flaneursalon und andere Aktivitäten, ist gut vernetzt. Er kennt viele Künstlerinnen und Künstler und weiß, in welcher Situation sie sich aufgrund der Auftrittsverbote, Absagen und Schließungen befinden. Und der eine oder andere, der sich nicht in Not befindet, ist bereit zu helfen, manchmal auch mit ansehnlichen Beträgen. Etwa wenn durch die Absage einer Firmen-Weihnachtsfeier Mittel frei geworden sind, erklärt der Kolumnist. Und wenn das Staatsorchester, das Pop-Büro und das Club Kollektiv mit einer gemeinsamen Veranstaltung per Livestream zu Spenden aufrufen, bringt das weitere Mittel ins Haus.
»Wir hatten gehofft, dass sich das weiter verbreiten würde und überall solche Initiativen entstehen «, bekennt Bauer, doch das sei nur begrenzt der Fall. Nun, es gibt durchaus viele Initiativen: Neun allein für verschiedene Zwecke in Hamburg finden sich auf einer Website des NDR. Das war im April. Seither ist vielerorts Ernüchterung eingetreten. Mit recht viel Schwung startete zum Beispiel im März die »coronakuenstlerhilfe« des angehenden Filmemachers Timm Markgraf und des Startup-Unternehmers Benjamin Klein aus Lüneburg. Sie hatten Unterstützung bekannter Musiker, es gab Fernseh- und Zeitungsberichte. Doch nach einem halben Jahr muss der Musikproduzent Peter Hoffmann, der das Projekt unterstützt, feststellen: »Diese Hilfe kommt nur sporadisch.« Und Markgraf ergänzt: »Jetzt haben wir die Situation, dass die Armen für die Armen sammeln.« Die bundesweite Initiative KrisenKultur mit über hundert Beteiligten musste im August ihre Hilfe einstellen: »Die Coronakrise ist nicht vorbei«, heißt es im Weblog, »aber wir mussten unsere Ressourcen neu einteilen.«
Tickets nicht zurückgeben, sondern in Gutscheine umwandeln, für Online-Konzerte und Lesungen ein Eintrittsgeld spenden, Kunst-Verkaufsaktionen, ja sogar bezahlte Geistervorstellungen für Kinoprogramme, die gar nicht stattfinden: Die Kulturszene ist kreativ. Doch selbst eine so erfolgreiche Initiative wie die in Stuttgart ist, Joe Bauer zufolge, »nicht mehr als ein Tropfen im Ozean«. Auf der Website der Bundesregierung steht immer noch, Stand 20. November: »Für das Programm Neustart Kultur steht rund eine Milliarde Euro zur Verfügung. « Das klingt nach viel Geld. Bereits Anfang Juni hat jedoch eine Prognose die zu erwartenden Umsatzeinbußen im Kulturbereich auf 39 Milliarden geschätzt. Angesichts solcher Summen kann die private Nothilfe nur versuchen, die Lücken zu füllen, die im staatlichen Hilfsangebot offen bleiben.
Baden-Württemberg steht vergleichsweise vorbildlich da. Es gibt eine Corona-Hotline bei der Medien- und Filmgesellschaft (MFG), die über die verschiedenen Hilfsangebote berät. Es gibt die Novemberhilfe, bei der man 75 Prozent der ausgefallenen Einnahmen ersetzt bekommt. Wer aber, wie viele Künstler und Freiberufler, so wenig verdient, dass 75 Prozent der Einnahmen nicht einmal die Fixkosten decken, der kann Überbrückungshilfe beantragen. Das geht wiederum nur mit einem Steuerberater. Doch die verdienen an der Coronahilfe nicht viel und sind derzeit fast ausnahmslos mit anderen Dingen ausgelastet. Was, wenn im November noch genug Geld für Aufträge der vergangenen Monate hereinkam und die Ausfälle sich erst im Januar bemerkbar machen? Es gibt viele solche Lücken im staatlichen Hilfssystem. Und nur hier kann private Hilfe sinnvollerweise einspringen.
Doch was in Stuttgart noch funktionieren mag, stößt anderswo schnell an Grenzen. 20.000 Euro hat eine Kampagne in Dresden gesammelt, 37.000 Euro eine andere in Leipzig. Bei allen Initiativen der Crowdfunding-Plattform Startnext kamen insgesamt nicht mehr als 130.000 Euro zusammen. Etwas mehr Spielraum haben lediglich einige Stiftungen. Die Deutsche Orchesterstiftung hat beispielsweise bisher drei Millionen gesammelt, die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung zwei Millionen für Studierende an 43 Musikhochschulen: eine andere Gruppe, die sonst durch alle Raster fällt. Vollends absurd wird es, wenn die Stiftung und private Geldgeber allein in Stuttgart je zur Hälfte 80.000 Euro aufbringen, damit Studierende von außerhalb der EU die speziell für sie eingeführten Studiengebühren von 1.500 Euro pro Semester bezahlen und ihr Studium fortsetzen können: Geld, das dann noch nicht einmal der Hochschule zur Verfügung steht, sondern überwiegend in den Landeshaushalt fließt.
Dietrich Heißenbüttel