Stierkampf auf der Straße
Gesellschaftliches
Das Leben auf der Straße ist nicht lustig. Es ist hart, kalt, gefährlich, brutal. Besonders im Winter. Unterhält man sich etwa mit einem Obdachlosen am Stuttgarter Hauptbahnhof, erzählt der einem schon mal, dass er gern duschen würde, aber die Benutzung der Duschen dort sieben Euro kostet. Sieben Euro sind viel Geld, wenn man keines hat.
Ferdinand hat ein ähnliches Problem. „Ein Waschsalon. Momo, der Geschäftsführer. Ferdinand tritt ein wie ein Typ, der den Sprung ins kalte Wasser wagt. Anzug, Krawatte, aber alles schrecklich schäbig. Man spürt seine Geldnot.“ Mit dieser Bühnenanweisung beginnt das Stück, das am 2. Dezember im Forum Theater Premiere feiert: die deutschsprachige Erstaufführung von Jean-Marie Piemmes „Die Stierkämpfer“.
Dem ernsten Sujet zum Trotz ist „Die Stierkämpfer“ ein komisches Zwei-Personen-Stück, weil die beiden Parteien einander mit unkonventionellen Weltbetrachtungsweisen zu überbieten versuchen. Gespielt werden sie von Stefan Müller-Doriat und Michael Ransburg. Auf der einen Seite steht da der noch immer stolze Ferdinand, der seinen Job verloren hat, sich aber seine Situation zu Beginn nicht ganz ehrlich einzugestehen vermag: „Ich bin ein freier Mann! Jetzt, wo ich auf der Straße stehe, steht es mir frei, jeden x-beliebigen Beruf auszuführen. Pilot, Bäcker, Raketenpilot, Informatiker, Kabinettchef, Zahnarzt!“
Auf der anderen Seite der Ausländer Momo, dessen Waschsalon ihm ein Einkommen beschert, und der die Kaste der Politiker gegen Ferdinands Anschuldigungen wie folgt verteidigt: „Wenn sie im Sumpf versinken, drückt sich ihr Lächeln noch im Schlamm ab. Sie wirbeln herum, sie piepsen, sie flattern, sie hüpfen. Manche können in ihrer Begeisterung ihr eigenes Geld nicht mehr von den Geldern der Partei oder den Staatsgeldern unterscheiden.“
Der Autor des Stücks kennt die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und ihre jeweiligen Perspektiven. Der 77-jährige Belgier Piemme wuchs im Arrondissement Lüttich im Arbeitermilieu auf. Sein Vater arbeitete bereits im Alter von 14 Jahren in einer Fabrik und war zeitlebens wehmütig, dass er selbst nie die Möglichkeit hatte, eine höhere Bildung zu erlangen. Umso wichtiger war ihm die seines Sohnes: „Er sagte zu mir ‚alles außer der Fabrik‘. Seinem Willen ist es zu verdanken, dass ich studiert habe. Er war es, der mich fast zum Studium gezwungen hätte“, schreibt der Autor über seinen Vater, ohne den er also womöglich nicht Philologie in Lüttich, später Theaterwissenschaften an der Universität Paris-Sorbonne studiert hätte.
Beide Männer in „Die Stierkämpfer“ lieben die Diskussion, das Ringen der Argumente. Wie in einem Debattierclub geht es zunächst weniger um die eigentliche Position, sondern eher darum, wer die jeweilige Seite ironisch-gewiefter zu vertreten weiß. „Die gemeinsame Freude, in geschliffenen, pointierten, bissigen und humorvollen Sätzen zu parlieren, motiviert Momo, Ferdinand zu einer Wohngemeinschaft einzuladen“, heißt es im Programmtext. Wobei ein besonders spitzfindiger Kritiker freilich anmerken würde, dass jemandem, der Freude am geschliffenen Parlieren hat, keineswegs ein Interrogativsatz wie „Sagen Sie das wegen mir?“ über die Lippen käme, wie er gleich auf den ersten Seiten der Übersetzung von Almut Lindner zu lesen ist. Er würde sich wohl eher für „Sagen Sie das meinetwegen?“ entscheiden.
Von derlei Kleinigkeiten abgesehen stimmt’s aber: Ferdinand und Momo werfen sich heiter und eloquent ihre verdrehten Perspektiven an den Kopf. Es geht um Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und Gott. Gerade an letzteren kann man als Wohnungsloser, der alles verloren hat, doch kaum noch glauben, oder? Ferdinand verkündet: „Je mehr Gott einen liebt, desto mehr Prüfungen erlegt er einem auf. (…) Ich versichere Ihnen, es gibt nichts Erfreulicheres, als bis zum Hals in der Scheiße zu stecken und sich immer wieder vorzusagen, das ist der Beweis, dass Gott einen liebt. Die ganze Kacke auf meinem Kopf ist die Liebe Gottes.“
Nur eines sollte bei der verquasten Argumentationsheiterkeit zwischen Ferdinand und Momo, die freilich bald in einen bedrohlicheren Stierkampf der beiden Hornochsen umschlägt, nicht auf der Strecke bleiben: dass es unfreiwillige Obdachlosigkeit in wohlhabenden Ländern eigentlich nicht geben dürfte. Zu oft ist sie Folge von systemgemachten Problemen wie Jobverlust und aberwitzig rasant steigender Mieten, welche wiederum Resultat tatenloser Politik sind, die allen Ernstes noch immer an die Allheilwirkung eines zusehends absurder werdenden freien Marktes glaubt und die Finanz- und Kapitalwesen so wenig einschränkt wie internationale Kriminalität, welche ihr Geld liebend gern in Immobilien wäscht und damit die Preise nach oben treibt.
Vielleicht ist aber auch alles ganz anders und Momo hat Recht mit seiner überschwänglichen Lobrede auf die Entscheider dieser Welt: „Uns fehlt es an Atem. An Atem, an Ausdauer. Wir wollen alles jetzt, sofort. Zum Beispiel: Arbeit, jetzt! Sofort! Aber die Politiker wissen, dass da die Weltwirtschaft ist, und die Gesetze der Weltwirtschaft, und die Gesetze der Weltwirtschaft sind schon ernster zu nehmen als das Jammern von Arbeitslosen, die nie zufrieden sind mit dem, was sie auf dem Teller haben.“