November 2019

Sinn für das Wahre und Ernste

Gesellschaftliche Selbstvergewisserung: Das Oratorium in Geschichte und Gegenwart

»Recht dicke, starke und volle Chöre« wolle er für seinen »Elias« komponieren, kündigte Felix Mendelssohn Bartholdy seinem Freund Karl Klingemann im Februar 1837 an. Er konnte dabei auf die enorme Entwicklung des Chorwesens in seiner Zeit vertrauen. Im 19. Jahrhundert gründeten sich zahllose Oratorienvereine, und die daraus hervorgehenden Aufführungsbedingungen boten zeitgenössischen Komponisten gleichermaßen künstlerische und materielle Anreize – der Bedarf an großformatigen Werken für Chöre und Orchester war hoch.

Im Zeichen allgemeiner Säkularisierung gelangten biblische Oratorien wie Mendelssohns »Elias« 1846 in der Stadthalle von Birmingham zur Uraufführung, seine »Walpurgisnacht« schon 1833 in die Berliner Singakademie; auch Haydns »Jahreszeiten« waren in einem weltlichen Gebäude erstmals erklungen (1801 im Wiener Palais Schwarzenberg). Berlioz‘ riesenhafte »Grande Messe des morts« hingegen wurde in die Liturgie eines Gedenkgottesdienstes gezwungen (1837 in der Pariser Invalidenkirche), während sein »Te Deum« zwar 1855 in der Kirche St. Eustache uraufgeführt wurde, dies jedoch aus einem absolut weltlichen Anlass, der Eröffnung der ersten »Exposition universelle« in Paris.

Vergleicht man damit die Orte, wo dieselben Werke demnächst in Stuttgart erscheinen, findet man aufschlussreiche Reibungen: Nur bei der »Walpurgisnacht« ergibt sich die Parallele eines nicht-kirchlichen Aufführungsortes (Liederhalle), ansonsten ist es genau entgegengesetzt: Um »Elias« und »Jahreszeiten« zu hören, muss man jeweils eine Kirche aufsuchen, während die Berlioz- Werke ebenfalls in der Liederhalle ertönen.

Auch wenn praktische Gründe darauf einwirken – dies deutet durchaus auf die Ambivalenz, die die Gattung des Oratoriums seit dem Moment verursacht, als sie sich von der liturgischen Einbindung (die bei den Bach-Passionen noch selbstverständlich war) emanzipierte und immer stärker die Konzertsäle eroberte oder die Kirchen in solche umdeutete. Hinzu trat im 19. Jahrhundert ein künstlerischer Aspekt, nämlich die heikle Abgrenzung zur Oper. Felix Mendelssohn Bartholdy gab ganz offen zu, dass er ein zweites Oratorium anpeilte, »da sich zu einer Oper immer noch keine Aussicht zeigt«. Richard Wagner, kaum verwunderlich, hatte für das Oratorium an sich nichts übrig und verurteilte die Gattung als »geschlechtslose Opernembryonen«.

Mit »Requiem« und »Te Deum« griff Berlioz auf schon früher oft vertonte geistliche Texte zurück. Dafür schärfte er in beiden Werken seine Instrumentationskunst bis zum Exzess. Dagegen sind die Textgrundlagen für »Elias«, »Walpurgisnacht« und »Jahreszeiten« eigens geschaffene Libretti, in denen sich Geistliches in unterschiedlicher Abstufung erhalten hat. »Elias« ist die Interpretation einer bekannten biblischen Gestalt, »Walpurgisnacht« die Vertonung einer Goethe-Ballade über einen Streit zwischen Heiden und Christen, und in den »Jahreszeiten« wird reichlich Naturphilosophie schließlich doch noch von einem gebetartigen Finale gekrönt.

All die genannten Werke, fast genau zwischen dem Anfang und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, gehören der bürgerlichen Epoche zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg an. Die Emanzipation des Oratoriums von der Kirche bei starker Beharrungskraft geistlicher Themen ist insofern auch ein Spiegelbild der politischen und sozialen Bewegungen, die diese Epoche prägten. Die Aufführung von Oratorien wurde eine Angelegenheit »unter Menschen« – innerhalb der stark besetzten Chöre, im größer werdenden Publikum und nicht zuletzt zwischen diesen aktiv und passiv Beteiligten.

Mendelssohn wollte »der vorherrschend (…) technisch- materiellen Richtung« seiner Zeit den »Sinn für das Wahre und Ernste« gegenüberstellen. Die Aufführung eines seiner großen Chorwerke war, zumal in Großbritannien, das den Komponisten wie einen Star verehrte und wo zur Uraufführung des »Elias« erstmals Sonderzüge eingesetzt wurden, auch Anlass für eine bürgerliche Gesellschaft, sich selbst zu feiern. Man findet Reste davon im heutigen Musikleben, dies ganz gewiss in einer Chorstadt, wie es Stuttgart ist. Auch wenn es heutzutage nicht viel zu feiern gibt – es könnte sich lohnen, stärker darüber nachzudenken, ob die Aufführung und Rezeption von großen Chorwerken auch hier und jetzt die gesellschaftliche Selbstvergewisserung, in den Worten Mendelssohns: den »Sinn für das Wahre und Ernste«, stärken kann.

Jürgen Hartmann

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