Prinzessin des Akkordeons
Ksenija Sidorova eröffnet mit der Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg in der Liederhalle den Zyklus »Faszination Musik«
Als „Quetschkommode“ wurde das Instrument in der Volksmusik popularisiert, die Engländer nennen es auch „squeezebox“. Dass das „Accordion,“ 1829 vom Wiener Instrumentenbauer Cyrill Demian patentiert und in verschiedenen Formen weiterentwickelt, lange Zeit in der klassischen Musik keine Rolle spielte, ist eigentlich verwunderlich. Erst im 20. Jahrhundert eroberte sich das Akkordeon als virtuoses Instrument mit originellen Klangwirkungen in der zeitgenössischen Musik seinen Platz. Paul Hindemith schrieb eine Trauermusik für Bratsche und Akkordeon, Alban Berg setzte es mit dämonischer Wirkung in der Wirtshausszene seiner Oper „Wozzeck“ ein, der französische Komponist Jean Francaix widmete ihm als Soloinstrument sein „Concerto pour accordéon et orchestre“. Aus der Neuen Musik ist das Instrument nicht mehr wegzudenken: Sofia Gubaidulinas „De Profundis“ für Solo-Bayan, wo die Luft als Klang wie von menschlichen Atemgeräuschen entweicht, oder Krzysztof Pendereckis „Accordion Concerto“ sind Beispiele hierfür. Einer der maßgeblichen Interpreten, der viel zur Integration des Akkordeons in die „klassische“ Musik beigetragen hat, ist Teodoro Anzellotti. Für ihn sind viele Uraufführungen von Komponisten wie Luciano Berio, Salvatore Sciarrino, Toshio Hosokawa, Jörg Widmann oder Hans Zender entstanden.
Beim Konzert mit der Russischen Kammerphilharmonie St. Petersburg am 14. November im Beethovensaal der Liederhalle ist die junge lettische Akkordeonvirtuosin Ksenija Sidorova die Solistin in einem Dialog zwischen Barock und Moderne. Typisch für Solokonzerte aus dem klassischen Repertoire, welche für Akkordeon transkribiert werden, spielt sie zunächst aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ für Solovioline und Orchester das vierte Concerto „L’inverno – der Winter“. Nicht nur der schwebende Silberton ihres Instruments wird die bildhaften Ausdruckswelten im Kontrast mit den Streichern der Kammerphilharmonie zum Leben erwecken: die kältestarre Atmosphäre der Staccato-Septakkorde, über die der „erbarmungslose Wind“ in Kadenzen hinwegfegt; die behagliche Wärme am Kaminfeuer, während das Pizzikato der Geigen wie Regentropfen an die Fenster pocht; die Kapriolen eines einsamen Eisläufers und die bedächtigen Schritte „bis das Eis bricht“ und „Scirocco und Boreas und alle kämpferischen Winde“, wie Antonio Vivaldi in den programmatischen Sonetten seiner „Quattro Stagione“ dichtet, in der Musik wettern.
Auf dem Dachboden ihrer Großmutter in Riga hat Ksenija Sidorova mit sechs Jahren ein Bandoneon entdeckt und sich gleich in das kleine Knopfakkordeon verliebt. Mit 16 zog sie nach London und studierte dort an der Royal Academy of Music. „Was mir in London gefiel, war dass das Akkordeon als klassisches Instrument behandelt wurde, nicht wie eines der Volksmusik. In Moskau am Konservatorium studiert man es in der Abteilung für Volksmusik. Aber vor allem in der zeitgenössischen Musik heute hat das Akkordeon eine eigene Identität entwickelt.“ Sidorova, die auch schon zusammen mit Rolando Villazón und Sting aufgetreten ist, versteht sich explizit als Botschafterin des klassischen Akkordeons: „Es ist wichtig, deine Tradition und deine Wurzeln zu kennen und das zu tun, was dir am meisten gefällt. Und für mich ist das die klassische Musik.“ Die Künstlerin, die vom britischen Independent nach ihrem Carmen-Album als „Princess of the accordion“ tituliert wurde, spielt ein Pigini-Instrument aus der Manufaktur des vor 75 Jahren in Ancona gegründeten Unternehmens, das eigens für sie gebaut wurde: 21 Kilo schwer – der Rolls Royce unter den Akkordeons, wie sie sagt. Auf ihrem 2011 erschienenen Album „Classical Accordion“ interpretiert Sidorova neben Bach und Mozart auch Berios „Sequenza“ und Tangos von Piazzolla, im letzten Jahr brachte sie mit „Piazzolla Reflections“ eine neue CD heraus, und während der Corona-Auszeit wirkte sie mit einem halbstündigen Video an einem Benefiz-Projekt der Royal Albert Hall mit, das im Internet auf Youtube abrufbar ist und alle Vorzüge der Künstlerin zur Geltung bringt.
Vom argentinischen Tango-Nuevo-Star Astor Piazzolla, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, bringt Ksenija Sidorova eines seiner großen Werke für Bandoneon und Orchester zur Aufführung: „Las Cuarto Estaciones Porteñas“. Zehn Jahre, nachdem Piazzolla aus Europa nach Argentinien zurückgekehrt war, begann er 1965 mit dem vierteiligen, von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ inspirierten Zyklus. Mit einem Koffer voller Noten mit Anleihen an Strawinsky, Bartók, Ravel war Astor Piazzolla mit einem Stipendium zur legendären Nadia Boulanger nach Paris gekommen, um Komposition zu studieren, doch sie machte ihm klar: „Das möchtest du sein, aber das bist du nicht. In dir kämpft ein Tango darum, dich zu befreien. Du musst dich selbst entdecken und annehmen, wer du in Wirklichkeit bist!“ In seiner Jugend hatte er zwar die Tangoszene von Buenos Aires entdeckt und war mit seinem Bandoneon Mitglied des Tangoorchesters von Anibál Troilo geworden, doch 1940 trifft er nach einem Konzert Artur Rubinsteins den berühmten Pianisten, der ihm empfiehlt, klassische Komposition zu studieren. So erfindet er, der 1946 in Argentinien sein erstes eigenes Ensemble, das Orquestra tipica, gründet aber weiter „seriös“ komponiert, unter Boulangers Einfluss in Paris 1953 den „Tango nuevo“.
„Porteños“ nennt man die Bewohner der Hafenstadt Buenos Aires, und so sind Piazzollas „Cuarto Estaciones“ ein spannungsvolles musikalisches Abbild der argentinischen Metropole und seiner Menschen. Der Puls der Großstadt, deren Erregtheit, Ruhe und Erstarrung werden in der Symbiose von Rhythmus und Melodik des Tango mit Elementen der europäischen Barockmusik evoziert: Im „Verano Porteño“ kocht die Hitze und Leidenschaft, aber auch die Trägheit und Erschöpfung des Sommers, im „Otoño Porteño“ der Abschied und die Vergänglichkeit des Herbsts, der „Invierno Porteño“ erzählt von der Melancholie und Einsamkeit des Winters, und „Primavera Porteña“ ist voller Aufbruch zu Neuem, dynamisiert in dem vom mitreißenden synkopischen Rhythmus vorangetriebenen Fugenthema.
Noch ein Wort zur Russischen Kammerphilharmonie und ihrem Dirigenten Juri Gilbo: Gegründet im Jahr 1990 von Absolventen des St. Petersburger Rimsky-Korsakow-Konservatoriums und seit zwanzig Jahren in Frankfurt am Main residierend, ist das Orchester ein renommierter Gast auf vielen europäischen Festivals und für internationale Solisten – darunter Stars wie Rostropowitch, Maisky, Nigel Kennedy und David Garrett - ein gefragter Klangkörper. Juri Gilbo, 1968 im damaligen Leningrad geboren, wurde 1998 Künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Russischen Kammerphilharmonie. Zum Abschluss des Konzerts in der Liederhalle spielen sie Mendelssohns 4. Sinfonie „Die Italienische“ mit den stürmischen Ecksätzen des Allegro vivace und des vom neapolitanischen Saltarello inspirierten Presto-Finale und den beiden von romantischer Melancholie berührten Mittelsätzen. Ein faszinierender Kontrast zu den Ausdruckswelten bei Vivaldi und Piazzolla!
Dietholf Zerweck