Moral, Empathie, neue Gesichter
Das Schauspiel Stuttgart startet unter neuer Leitung mit einem Premierenreigen in die Spielzeit
Endlich ist es so weit: Mitte November öffnet auch das Schauspiel der Staatstheater seine Tore, und an den beiden folgenden Wochenenden stehen nicht weniger als vier Premieren ins Haus. Mit »Vögel« von Wajdi Mouawad beginnt der Premierenreigen – der noch durch eine Uraufführung (»Die Abweichungen «) und Ödön von Horváths »Jugend ohne Gott« im Kammertheater ergänzt wird – in der Inszenierung des neuen Intendanten Burkhard C. Kosminski. »Tous des oiseaux«, so der Originaltitel, wurde im letzten Jahr am Pariser Théâtre La Colline uraufgeführt und zeigt den im Libanon geborenen franko-kanadischen Autor und Regisseur in der Tradition orientalischer Geschichtenerzähler. So wie Wajdi Mouawad in früheren Stücken Familienschicksale in den libanesischen Bürgerkrieg einbettete, so konfrontiert er den Zuschauer in »Vögel « mit den verwickelten Beziehungen von Juden und Arabern, Palästinensern und Israelis auf dem Hintergrund von Holocaust und Nahostkonflikt. Der junge Wissenschaftler Eitan verliebt sich in einer New Yorker Universitätsbibliothek in die Studentin Wahida. Als er sie in Berlin seinen Eltern vorstellt, kann sein Vater nicht akzeptieren, dass er als Jude eine Araberin heiraten will. Auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie reist Eitan mit Wahida nach Israel, doch dort kommt er einem Geheimnis auf die Spur. Mouawad erzählt die Handlung mit effektvollen Schauplatzwechseln und mit Dialogen, in denen deutsch, englisch, arabisch und hebräisch gesprochen wird. Der Titel des Stücks bezieht sich auf ein altes persisches Märchen, welches gleichnishaft vom Überschreiten religiöser und kultureller Grenzen handelt.
»Das Theater existiert nicht in einem ethischen Vakuum.« Oliver Frjlic
Eine klassische Love-Story erzählt Shakespeares »Romeo und Julia«, doch so wie sie der vielfach ausgezeichnete bosnisch-kroatische Regisseur Oliver Frjlic auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses in Szene setzen will, steht nicht die tragische Liebesgeschichte der beiden im Vordergrund. »Eigentlich beginnt mein Stück mit der Verwandlung von Romeo und Julia im Moment ihres Todes«, sagt Frjlic, der in Shakespeares Drama den verborgenen Handlungsmotiven auf der Spur ist. »Es geht nicht nur um Liebe und Hass in diesem Stück, sondern um vieles, das nicht so offensichtlich ist. Zum Beispiel im Charakter des Bruder Lorenzo: Was steckt hinter seinen Motiven? « Andererseits will der Regisseur, der wegen seiner die Menschenrechte thematisierenden Inszenierungen in Kroatien, Polen und Tschechien auf nationalistischen Widerstand traf, »Romeo und Julia« nicht als politische Allegorie darstellen. Auf die Frage, ob er sein Publikum schockieren will mit seinen Inszenierungen, meint Frjlic, er wolle sich nur als Individuum mit den Mitteln des Theaters ausdrücken: »Das Theater hat seine eigene Moral, es existiert nicht in einem ethischen Vakuum, darum sollte es uns an unsere moralische Verantwortung erinnern.«
Auch in Theresia Walsers Komödie »Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel« (der Titel ist ein Zitat des libyschen Herrschers Gaddafi) geht es um Moral und deren Gegenteil. Drei Politikerfrauen, durch ihre Vornamen kenntlich gemacht als die Gattinnen toter oder lebender Diktatoren wie Honecker, Marcos und Ben Ali, treffen sich bei einer Pressekonferenz aus Anlass der Verfilmung ihres Lebens zum Smalltalk. »Was kann ich dafür, wenn manche so blöd waren, über die Mauer zu klettern?«, mokiert sich Frau Margot, und Frau Imelda meint: »Bei uns sind Leute von jetzt auf gleich verschwunden, und irgendwann hat man sie ohne Kopf gefunden. In der Oper sind das große Momente.« Frau Leila, bei der mehrere Fäden von Potentaten-Gattinnen des Arabischen Frühlings zusammenlaufen, empört sich: »Auf einmal sind wir Dreck! Dreimal die Woche rief der französische Präsident bei uns an, ein bisschen plaudern, ein bisschen Tratsch. Jetzt dürfen wir nicht mal mehr französischen Boden berühren.« Von Theresia Walser hat der neue Stuttgarter Intendant schon mehrere Stücke wie dieses am Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt.
Mit seiner »Orestie« nach Aischylos inszeniert der Brite Robert Icke zum ersten Mal an einem deutschen Theater.
Für seine Klassiker-Bearbeitungen am Londoner Almeida Theatre gefeiert, versammelt Icke die Atriden-Familie am Küchentisch und rollt die mit Krieg und Mord verknüpfte Fluchgeschichte wie in einer Psychoanalyseoder Gerichtssitzung wieder auf, an deren Ende die Zuschauer über Schuld oder Unschuld des Rächers Orest abstimmen. »Der entscheidende Punkt ist, dass der Zuschauer beide Seiten sieht. Das Drama verurteilt niemanden. Aber ich habe die Hoffnung, dass das Theater uns allen zu mehr Empathie verhilft.«
Viele neue Gesichter sind in diesen ersten Produktionen der Saison zu erleben: Sylvana Krappatsch (Klytämnestra), Matthias Leja (Agamemnon), Anne-Marie Lux (Elektra) neben Peer Oscar Musinowski aus dem Petras-Ensemble als Orest, Christiane Roßbach, Anke Schubert und Paula Skorupa im Walser-Stück, Jannik Mühlenweg und Nina Siewert (schon letzte Spielzeit in Stuttgart) als Romeo und Julia sowie Amina Merai (Wahida) und Martin Bruchmann (Eitan) in einer internationalen Besetzung der »Vögel«.
Dietholf Zerweck