Lust auf Klassik
Eine Vorschau auf die Highlights der neuen Konzertsaison im September und Oktober
Die Konzertsaison beginnt – und gleich präsentiert die Kulturgemeinschaft im September und Oktober mehr als zwei Dutzend Veranstaltungen mit exzellenten Orchestern und Ensembles, Solisten und Dirigenten, die nicht nur wegen ihrer Programmvielfalt und den wechselnden Spielorten das Interesse wecken.
Topstar der beginnenden Stuttgarter Saison ist natürlich der neue Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters Teodor Currentzis. Gerade hat er bei den Salzburger Festspielen alle neun Beethoven- Sinfonien mit seinem 2004 im russischen Perm gegründeten Ensemble MusicAeterna aufgeführt, bei seinem »Antrittskonzert« im Beethoven- Saal der Liederhalle (21. 9.) wird er Gustav Mahlers 3. Sinfonie dirigieren. Schon die Interpretation von Bruckners 9. Sinfonie mit seinem zukünftigen Orchester im Januar war atemberaubend radikal, sprich an die Wurzeln gehend. Currentzis, als »Klassik-Rebell« bewundert und gehyped, will die von ihm dirigierten Werke von der Patina der Gewohnheit befreien wie vor Jahrzehnten die Restauratoren Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Dass er dies auch mit dem SWR Symphonieorchester bei Mahlers 100-minütigem, 6-sätzigem sinfonischem Koloss versuchen wird, darf man erwarten.
Ein anderer Newcomer in Stuttgart ist der neue Opern-GMD und Chef des Staatsorchesters Cornelius Meister, bis vor kurzem Chefdirigent des ORF-Symphonieorchesters Wien und vielfach mit Opernproduktionen ausgezeichnet. Im ersten Saisonkonzert (7./8. 10.) hat er bezeichnenderweise ebenfalls Gustav Mahler im Programm: dessen 7. Sinfonie, deren C-Dur-Schlusssatz im Laufe der Zeit ähnlich kontrovers aufgenommen wurde wie das Finale der 3. Sinfonie. Theodor W. Adorno vermisste darin die sonst geschätzte Vielschichtigkeit und Ironie, der Komponist sei »ein schlechter Jasager, seine Stimme überschlägt sich, seine vergeblichen Jubelsätze entlarven den Jubel«, während Mahlers Zeitgenossen »Sonne und Erde, Schöpfer und Geschöpf, Göttliches und Irdisches in einem großen Akkord« zusammen tönen hörten. Es ist überhaupt phänomenal, wie sich die Mahler-Rezeption im letzten halben Jahrhundert, nach der Verfemung des österreichisch-jüdischen Komponisten durch die Nazis und dessen Abwehr durch die Neue-Musik-Dogmatiker nach 1945, verändert hat und wie Mahler und Schostakowitsch heute als die beiden größten Sinfoniker des 20. Jahrhunderts gefeiert werden. Seinen Einstand mit dem traditionsreichen Staatsorchester gibt Meister jedoch mit einem der Kultstücke der modernen Musik: John Cages »4‘ 33‘‘«, bei dem die Zuhörer viereinhalb Minuten oder eine gefühlte Ewigkeit den Musikern beim Zelebrieren der Stille im Konzertsaal beiwohnen. Der Spannungsbogen von Cage über Haydns »Le Matin« zu Mahler dürfte gewaltig sein.
Einige Gastdirigenten versprechen bei ihrem Auftritt in der Liederhalle besonders interessante Höreindrücke. Der erst 30-jährige Israeli Yoel Gamzou, seit 2006 Gründer und Leiter des International Mahler Orchestra, dirigiert die Stuttgarter Philharmoniker in Mendelssohns »Schottischer « Sinfonie, Richard Strauss‘ »Metamorphosen « und Elgars Cellokonzert mit dem bulgarischen Solisten Stefan Hadjiev (9. 10.). Die Französin Ariane Matiakh, immer noch eine der seltenen Dirigentinnen auf deutschen Konzertpodien, hat bei ihrem Debüt mit diesem Orchester (19. 10.) neben Johann Strauß (»An der schönen blauen Donau«) und Liszt (»Mephistowalzer«) die 3. Sinfonie von Johannes Brahms im Programm.
Der 1980 in Riga geborene Andris Poga – vor seiner Ernennung zum Chefdirigenten des Lettischen Staatsorchesters 2013 Assistent von Paavo Järvi beim Orchestre de Paris – eröffnet die von der Kulturgemeinschaft mitveranstaltete Reihe »Faszination Klassik« mit seinem Orchester (25. 10.) mit Tschaikowskys »Pathétique« und Baiba Skride als Solistin im 1. Violinkonzert Sergej Prokofjews. Ein anderer prominenter Geiger ist beim Stuttgarter Kammerorchester zum Saisonauftakt im Mozart-Saal der Liederhalle zu Gast: Am 14. September spielt der Reine-Elisabeth-Preisträger und 2006 mit dem Premio Paganini Genf ausgezeichnete Chinese Ning Feng auf seiner Stradivari »MacMillan« von 1721 Mendelssohns d-Moll-Violinkonzert unter der Leitung von Matthias Foremny.
An ganz anderem Ort, im Kunstmuseum Stuttgart, tritt das Stuttgarter Kammerorchester mit Peter Rundel als Dirigent und Werken des 20. und 21. Jahrhunderts in Erscheinung (31. 10.). Vom 1932 geborenen polnischen Komponisten Wojciech Kilar – bekannt auch durch seine Musik zu Filmen wie Polanskis »Der Pianist« und »Der Tod und das Mädchen« oder Jane Campions »Portrait of a Lady« – erklingt zu Beginn »Orawa« aus dem Zyklus seiner »Tatra Mountain Works«. Kilar, der nach Werkphasen unter dem Einfluss von Strawinsky und Bartók sowie der Schönberg-Schule eine eigenständige Synthese von melodischer Tradition und Minimal Music entwickelte, hat in »Orawa« dem Fluss, dem Land und den Bergen der Karpaten ein tönendes Denkmal gesetzt, mit ätherischem Naturlaut und folkloristischen Anklängen. Die Uraufführung von Samir Odeh-Tamimis Konzert für Viola und Streichorchester mit dem Grazer Manuel Hofer als Solisten steht im Mittelpunkt des Konzerts: Der in Tel Aviv geborene palästinensische Komponist spielte zunächst als Keyboarder und Schlagzeuger in verschiedenen arabischen Ensembles, bevor er in den 1990er Jahren an den Universitäten von Kiel und Bremen studierte und seitdem für Festivals der Neuen Musik wie Donaueschingen Auftragswerke komponiert, die oft auch die Spannungen und Konflikte Israels reflektieren. Arnold Schönbergs »Verklärte Nacht« in der Fassung für Streichorchester beschließt das originelle Programm. Dass auch ein konventioneller Spielort wie der Mozart-Saal der Liederhalle zur experimentellen Musikbühne werden kann, ist bei einem Konzert unter dem Titel »Adónde – Wohin? Auswege in die Musik von Schubert und Kurtág« zu erleben (16. 10.). Der programmatische Name des Stuttgarter Neue-Musik-Ensembles Ascolta (»Höre!«) passt auf das gemeinsame Projekt mit dem Hamburger Ensemble Resonanz, das sich in seinen Spielstätten der Elbphilharmonie und auf St. Pauli mit dem Verhältnis von zeitgenössischer Musik und klassisch- romantischer Tradition auseinandersetzt. Lieder von Franz Schubert und Miniaturen des ungarischen Komponisten György Kurtág hat der Komponist Christoph Grund zu einem fünfviertelstündigen Klangkosmos verarbeitet, der unter seiner Leitung aufgeführt wird – ganz im Sinne von Kurtágs Kommentar zu seinem Klavierzyklus »Játékok « (»Spiele«): »Für mich ist eine Komposition nie beendet. Ich brauche immer ein nächstes Mal.« Wenn Frieder Bernius mit seinem Kammerchor und der Hofkapelle Stuttgart in der Domkirche St. Eberhard Beethovens »Missa solemnis« nach der Rückkehr von seiner Italientournee aufführt (18. 10.), dann erlebt man Klangexperimente ganz anderer Art. Der 71-jährige Wahl-Stuttgarter tüftelt seit einem halben Jahrhundert als Chor- und Orchesterleiter an der idealen Balance der Klänge, je nach Werk und historischem Kontext, und seine erneute Auseinandersetzung mit Beethovens chorsinfonischem Monumentalwerk wird am sakralen, akustisch empfindlichen Ort gewiss die Zuhörer überwältigen. Zwei Wochen davor (4. 10.) dirigiert am gleichen Ort der mehr als eine Generation jüngere Florian Helgath (seit 2011 Leiter des ChorWerks Ruhr) das von Marcus Creed in 15 Jahren zu einem Spitzen-Klangkörper geformte SWR Vokalensemble in Bach-Bearbeitungen von Nystedt, Sandström, Kagel, Schnebel und einer Uraufführung von Isabel Mundry. Der Liedkunst widmet sich die Internationale Hugo-Wolf-Akademie im Turm-Konzertsaal der Musikhochschule beim Preisträgerkonzert am Ende des viertägigen Wettbewerbs (23. 9.). Beim Liedkonzert im Lüster-Foyer der Stuttgarter Oper (1. 10.) gibt die Sopranistin Marlis Petersen, begleitet von Stephan Matthias Lademann am Klavier, ihr hiesiges Debüt.
Als Georg Friedrich Händel sein Oratorium »Messiah « 1742 in Dublin uraufführte, hatte Johann Sebastian Bach mit seinen großen Passionen und den in den 1730er Jahren in Leipzig komponierten Kantaten des Weihnachtsoratoriums seine bis heute populärsten Chorwerke schon geschaffen. Seit seinem Amtsantritt als künstlerischer Leiter der Internationalen Bachakademie verändert Hans-Christoph Rademann den von Helmuth Rilling geprägten Stuttgarter Bachstil konsequent im Sinne einer historischen Klangrede, mit einem barock instrumentierten Orchester und einem intensiv auf Affekt und Artikulation geschulten Chor, deren gemeinsamer Name Gaechinger Cantorey schon in seiner Schreibweise den Bezug zum 18. Jahrhundert herstellt. Rademanns Klangvorstellungen von Bach gelten in gewisser Weise auch für Händel und dessen Oratorien, von denen er schon 2013 »Israel in Egypt« und zum Abschluss des letztjährigen Musikfests »Belshazzar« musiziert hat. Wobei sich ihm in diesen theatralischen Musikdramen mit Stoffen aus dem Alten Testament auch ungeheuer dramatische Momente eröffnen, die Rademann ganz offensichtlich genießt. Seine erneute Beschäftigung mit Händels »Messiah « (6. 10.) im Beethoven-Saal der Liederhalle wird nach den Bachakademie-Aufführungen 2014 in der Liederhalle – entsprechend der von Charles Jennens‘ Libretto inspirierten Musik Händels – mehr die Spiritualität dieses großartigen Oratoriums ins Zentrum rücken. Wieder singt die wunderbare Robin Johannsen die Sopranpartie: Ihre Arie »I know that my Redeemer liveth – Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« wird gewiss ein Höhepunkt dieses Konzerts.
Dietholf Zerweck