Lasst die Puppen tanzen
Endlich beginnt die Theaterspielzeit – mit Schauspiel, Varieté, Figurentheater und noch mehr
Die Schauspielabteilung der Stuttgarter Staatstheater startet in diesem Jahr erst Mitte November. »Sad!«, wie ein US-amerikanischer Präsident zu sagen pflegt. Doch aus der Not lässt sich eine Tugend machen, denn die anderen Theater in der Stadt warten pünktlich zum Saisonbeginn mit vielversprechenden Produktionen auf. Kein Grund also, sich der Herbstmelancholie hinzugeben.
Mit renovierter Homepage und dem neuen Intendanten Axel Preuß legt etwa das Alte Schauspielhaus im September mit »Maria Stuart« los. Martin Schulze inszeniert Friedrich Schillers Drama um die katholische Königin Schottlands und ihr englisches Protestantenpendant Elisabeth. Maria ist in Gefangenschaft, Elisabeth heuert Mortimer an, die Eingekerkerte zu ermorden. Der nimmt an, will die Schönheit aber eigentlich retten – bestimmt mal in der Schule gelesen, erinnern Sie sich noch? Es wird dem Jahr von #metoo jedenfalls gerecht, dass man mit zwei der größten Frauen der Weltliteratur in die neue Spielzeit geht.
Auch die zweite Produktion des Hauses ist auf der Höhe der Zeit: »Willkommen«, die Regiearbeit von Schirin Khodadadian, feiert im Oktober Premiere. In dieser im letzten Jahr in Düsseldorf uraufgeführten Komödie des Autorenduos Lutz Hübner und Sarah Nemitz will ein vorübergehend ausgezogener WG-Bewohner sein Zimmer einer syrischen Familie zur Verfügung stellen. Die anderen drei Mitbewohner finden die Idee an und für sich gut. Aber, naja: Wird das nicht ein bisschen eng? Oder zu laut? Und außerdem: Der Freund des schwangeren WG-Nesthäkchens Anna sucht ebenfalls ein Zimmer, hat türkische Wurzeln und eine abweichende Meinung über arabische Flüchtlinge und diejenigen, die ihnen helfen. Wer vom Dauerbrennerthema der Talkshows einfach nicht genug bekommt, hat an dieser pointierten Diskussion gewiss seine Freude.
Willkommenskultur auch im Friedrichsbau Varieté: »Servus, Grüezi und Hallo« heißt die neue Eigenproduktion, mit der die Spielzeit eröffnet wird. Und die verspricht Gigantisches, denn: Sogar Volksfestmuffel werden hieran ihre Freude haben, heißt es. Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der Feierei auf dem Cannstatter Wasen tragen die Akteurinnen und Akteure Dirndl und Lederhosen. Regisseur Ralph Sun müsste aber zum Glück erfahren genug sein, um die Show nicht zu sehr gen Volkstümelei abdriften zu lassen. Nebst Komik und Artistik dürfen sich Varietégänger auf das Wiedersehen mit einem alten Bekannten freuen: Der verrückte Italiener Skizzo ist mal wieder am Pragsattel zu Gast. Hier überzeugte er zuletzt mit seinem Mix aus lässigen Tricks und unvorhergesehenen Explosionen – der vielleicht witzigste Magier, der je auf dieser Erde zauberte.
Im FITZ Figurentheater gibt’s nach der Sommerpause Krach: »Puppen machen: Lärm« von Alberto García Sánchez (Titelfoto) widmet sich dem Kampf zwischen Profit und Solidarität – der zentrale der Gegenwart, vielleicht der zentrale Kampf der Menschheit überhaupt. Archibald, der Sohn von Zeus und Europa, glaubt an eine bessere Welt und will die anderen böhmischen Marionetten überzeugen. Allein: Seiner Schwester schwebt eine ganz andere Gesellschaftsordnung vor, für die sie mit allen Mitteln zu kämpfen bereit ist. Wer von beiden sich wohl als besserer Puppenpopulist entpuppt?
Umtriebig wie immer präsentiert sich das Theater Rampe. Mit dem hoffentlich bald nahenden Ende des Patriarchats setzt sich die erste Premiere auseinander: In »Who Run The World: Das Evangelium nach Maria / Die Apokalypse nach Lilith« der moldauischen Autorin Nicoleta Esinencu wird Adam gestürzt, bekommt Jesus Konkurrenz und avanciert Gott zur Göttin. In ihrer Heimat unterliegt Esinencu übrigens der Zensur der Republik Moldau, ihre Texte dürfen dort nicht gedruckt werden. Hier erfreulicherweise schon!
Ein Blick nach Esslingen: Auf der dortigen Württembergischen Landesbühne gibt es unter anderem Eugène Ionescos »Die Nashörner« zu sehen. Ein fantastisches Werk des absurden Theaters, inszeniert von Markus Bartl: Ein Nashorn jagt durch die Stadt und trampelt alles nieder. Als es von dannen zieht, taucht schon das nächste auf. Dann noch eins. Und noch eins. Es sind die Bewohner. Sie verwandeln sich in diese Tiere. Bis auf einen: Ionescos Alter Ego Behringer. Der hält nichts von Konformität und lässt sich nicht anstecken. Vorbildlich. Behringer ist ein Typ, der ständig zu spät kommt, ungepflegt ist und trinkt. Vorbildlich. Womöglich hilft die Sichtung dieses bereits 1959 uraufgeführten Stücks ja dabei, nicht selbst zum Nashorn zu werden. In Nashornzeiten wie diesen.
Mit einem vergleichsweise neuen Werk empfängt die Komödie im Marquardt ihre Gäste: »Monsieur Claude und seine Töchter« war eine der beliebtesten Kinokomödien der letzten Jahre. Robin Telfer führt Regie bei dieser Bühnenfassung von Stefan Zimmermann und bringt die vier Töchter auf die Bretter. Derer drei sind bereits verheiratet. Die eine mit einem Juden, die andere mit einem Moslem, die dritte mit einem Franzosen chinesischer Abstammung. Die vierte hingegen hat sich mit einem Katholiken verlobt. Doch nicht einmal der entspricht den Vorstellungen des Monsieur Claude. Und dass die Schwiegersöhne ebenfalls Vorurteile haben und einander auch noch misstrauisch begegnen – geschenkt. Hierzulande gibt’s ja schon Stress, wenn der Schwiegersohn aus Baden kommt.
Apropos hierzulande: Im Studio Theater lässt sich Jörg Harlan Rohleders Roman »Lokalhelden « als Inszenierung von Günter Maurer sehen. Der spielt in Stuttgart, wo Enni, Brownsen und Wolle, Kumpels des Erzählers, zu Beginn der 1990er vor der Tür der Nachschulzeit, vor dem Abitur stehen. Dass diese Ära noch keine dreißig Jahre zurückliegt, kann man sich kaum noch vorstellen: Das heutige Internet war damals noch eine Science-Fiction-Vision, ein Handy wog zwölf Pfund und alle hörten Techno. Hiphop hauste noch im Untergrund. Die drei Darsteller Tobias Wagenblaß, Sebastian Schäfer und Ronja Schweikert mäandern durch diese fast vergessene Welt vor unserer Zeit und erzeugen die Geräusche selbst: vom Zischeln des Burgerfleischs auf dem Grill bis zum Blubbern der Bong, von der schwäbischen Kneipe über Amsterdams Coffeeshops in den Jugendknast. »Lokalhelden« ist eben kein typisches Heimatbuch.
Ganz wichtig ist freilich auch, dass das Renitenztheater seine Pforten wieder öffnet. Denn wenn der triste Herbst beginnt, helfen die neuen Programme der Kabarettistinnen und Comedians, Nässe und Kälte für ein paar Stunden zu vergessen.
Zunächst ist freilich ein betrüblicher Abschied zu melden: Am 27. September präsentiert der legendäre Henning Venske sein neues und zugleich letztes Programm »Summa Summarum«. Sicher, im Alter von 79 Jahren hat er sich den Bühnenruhestand durchaus verdient. Aber vermissen wird man »Deutschlands meistgefeuerten Satiriker« auf den Brettern schon. Jüngst hat er zugegeben: Bei den meisten Zeitungen, von denen ihn angeblich so viele geschasst haben, hat er selbst gekündigt. Mal schauen, was er noch so preisgibt.
Einer, der indes noch am Anfang seiner Karriere steht, ist Masud Akbarzadeh. Wer? Ja, wer? Aufgrund dieser nicht selten gestellten Frage heißt sein neues Programm schon wieder: »Who the Fuck is Masud Akbarzadeh? Staffel 2« (25. Oktober). Seinen Namen sollte man sich dennoch einprägen: Masud kommt wahlweise aus Persien oder dem Iran – je nach aktueller politischer Lage – und zählt zu den wenigen Menschen, die mit ihrer Lethargie einen Saal mitreißen können. Klingt paradox, geht aber tatsächlich. Warum genau Masud Akbarzadeh eigentlich komisch ist, ist halt noch nicht ausreichend erforscht. Sicher ist: Er ist’s.
Mit dieser Fülle an Darbietungen sollten sich September und Oktober eigentlich ganz gut überstehen lassen. Angesichts der hitzigen Gesellschaftsdebatten auch ganz verlockend, mal wieder bei unter 30 Grad aus dem Haus und ins Theater zu gehen. Wo die Gefechte etwas kunstvoller ausgetragen werden als am Stammtisch oder bei Plasberg. Man lasse sich nur nicht zum Nashorn machen.
Cornelius W. M. Oettle