In Aufbruchsstimmung
Die Kunst um 1900 wird das Fokus-Thema der kommenden Saison sein: ein Vorausblick
Resigniert zurücklehnen? Das passt nicht zur Kulturgemeinschaft. Während der Zwangspause stellt Michael Wenger vom Kunstbüro das Programm 2020/2021 in der Sparte Kunst und Architektur zusammen. Im Interview verrät er schon einmal, welches Thema diesmal im Fokus steht.
Jedes Jahr gibt es bei der Kulturgemeinschaft ein übergeordnetes Thema, das wie ein roter Faden Kunsttage und Kunsterlebnisse, Reisen und Führungen miteinander verbindet. Welches Thema ist es diesmal?
Ein sehr spannendes und vielschichtiges: die Kunst um 1900.
Was hat Sie zu diesem Thema inspiriert?
Es gab tatsächlich einen besonderen Auslöser, nämlich die Schenkung von Ferdinand Wolfgang Neess an das Museum Wiesbaden im vergangenen Jahr. Neess wurde als Sammler von Kunst und Kunsthandwerk der Zeit um 1900 weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Rund fünfhundert Objekte seiner Sammlung sind nun für die Öffentlichkeit zugänglich. Das ist eine Sensation, auf die wir bei der Kulturgemeinschaft selbstverständlich reagieren – mit einem Kunsttag.
Was fasziniert Sie an der Zeit um 1900?
Die Jahrhundertwende war eine Zeit des bewussten Aufbruchs. Man löste sich von überkommenen Mustern und suchte nach neuen Ausdrucksformen, und das auf vielen Gebieten. So entstanden in dieser Zeit das neue Theater, die neue Musik, aber auch die Reformkleidung. Interessant ist, dass diese Entwicklung zwar europaweit zu beobachten ist, jedoch von jeder Nation anders interpretiert wird.
Bei den Kunstreisen und Kunsttagen werden also wieder einige Grenzen passiert werden.
Auf jeden Fall. Wir reisen nach Glasgow und Wien. Auch München, Karlsruhe und, wie erwähnt, Wiesbaden stehen auf dem Programm. In den Vorträgen, Führungen und Kunsterlebnissen kommen unter anderem Art Nouveau in Paris, die Arts and Crafts-Bewegung in England und die Kunst in Wien um 1900 zur Sprache. Unser Ziel ist es, den Bogen möglichst weit zu spannen und so viele Facetten wie möglich aufzunehmen.
Was erwartet die Reisenden in Glasgow?
Wir werden uns dort auf die Spuren des Künstlerpaars Margaret MacDonald und Charles Rennie Macintosh begeben. Beide haben als Allrounder den Art Nouveau in Großbritannien entscheidend geprägt. In Glasgow besuchen wir unter anderem das Mackintosh House und trinken in einem der originalgetreu eingerichteten Willow Tea Rooms Tee – oder Kaffee. Auf dem Programm stehen auch Besuche in der legendären Glasgow School of Art und in der Gemäldegalerie.
Die zweite Reise führt dann nach Wien ...
Ja, Wien glänzt natürlich durch die Eleganz, die mit Gustav Klimt, der Secession, der Wiener Werkstätte und den Architekten Wagner, Olbrich und Hoffman auftrumpft. Das Themenfeld begleitet mich seit frühester Jugend und hat seine Faszination auf mich nie verloren. Deshalb biete ich selbst diese Reise an.
Neben Architektur und Malerei spielen im Fokus Kunst auch Kunstgewerbe und Mode eine Rolle ...
Aus gutem Grund. Eine zentrale Idee um 1900 war es, den guten Geschmack unters Volk zu bringen. So etwas ist vor allem durch das Kunstgewerbe möglich. Viele Künstler der Zeit haben deshalb Gebrauchsgegenstände wie Teller, Lampen oder Türklinken gestaltet. Meine Großmutter besaß noch ein Geschirrtuch, das Joseph Maria Olbrich entworfen hat.
Sie hatten erwähnt, dass auch japanische Kunst eine Rolle spielen wird ...
Richtig. Um die Jahrhundertwende kamen zusehends Luxusartikel aus Japan nach Europa, insbesondere Holzschnitte. Sie wurden zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Künstler wie Gauguin oder van Gogh. Wie sich das auswirkt, erfahren wir bei einem Kunsterlebnis, das uns zunächst in die Staatsgalerie und danach in die Japanabteilung des Lindenmuseums führt. Geplant ist auch eine Teezeremonie. Das wird ein toller Tag.
Werden Sie selbst auch eine Führung abhalten?
Ja. Ich biete einen Architekturrundgang durch eine der schönsten Straßen der Stadt an: die Liststraße, die Magistrale des Lehenviertels. Darüber hinaus haben wir noch einiges mehr im Programm.
Stehen noch weitere Stationen in Stuttgart auf dem Programm?
Aber selbstverständlich! Tobias Bednarz bietet in der Staatsgalerie eine Führung zu Edward Burne-Jones an, der als Ahne des Jugendstils gelten kann. Im Zentrum steht dabei natürlich der Perseus-Zyklus. Freuen darf man sich auch auf das Kunsterlebnis „Kuss der Medusa“. Die Zeit um 1900 ist ja nicht nur die Zeit des Jugendstils – sie kennt auch das Abgründige, Rauschhafte, Morbide. Für dieses Thema kann es in Stuttgart keinen besseren Ort geben als das Lapidarium. Ricarda Geib wird dort führen, passend dazu gibt es eine Lesung mit Texten der Zeit, zum Beispiel von Schnitzler.
Das Gespräch führte Angelika Brunke