Im Gefängnis endlich ein Zimmer für sich allein
Kindsmord, Aufstieg, Abstieg: Das Schauspiel Stuttgart bringt den Roman „Die Rache ist mein“ von Marie NDiaye auf die Bühne
Ein Thema, das die Literatur immer wieder fasziniert: Eine Frau hat ihre Kinder umgebracht. Nicht ein, nicht zwei, nein, gleich drei junge Menschenleben hat sie ausgelöscht und ihr eigenes Fleisch und Blut in der Badewanne ertränkt. Dabei war Madame Principaux bisher eine gewöhnliche Hausfrau, die sich hingebungsvoll um die Familie kümmerte. Nun steht der Ehemann im Büro der Anwältin Maître Susane und bittet um ihre Hilfe. Bloß: Warum ist der Mann so teilnahmslos? Und warum bringt eine Mutter ihre Kinder um?
„Die Rache ist mein“ nennt sich der jüngste Roman von Marie NDiaye, eine Mischung aus Thriller und Gesellschaftsstudie, die das Schauspiel Stuttgart nun auf die Bühne bringt. Stuttgart konnte sich die Uraufführung des Buches sichern, das 2021 erschienen ist und sofort auf Besten- und Empfehlungslisten landete. Denn es ist nicht nur die Geschichte einer Frau in einer Extremsituation, die fasziniert. Marie NDiaye gehört derzeit auch zu den bemerkenswertesten Autorinnen Frankreichs.
Geboren wurde Marie NDiaye 1967 bei Orléans. Sie schrieb bereits als Jugendliche. Mit 17 Jahren fuhr sie nach Paris, um dort ihr erstes Manuskript bei Verlagen abzugeben. Mit Erfolg, bereits einen Tag später rief ein Verleger an. Am übernächsten Tag holte er sie von der Schule ab – und schon bald erschien ihr erster Roman.
Inzwischen lebt Marie NDiaye in Paris und hat ein Dutzend Romane veröffentlicht und bekam für „Drei starke Frauen“ 2009 als erste schwarze Autorin den wichtigsten Literaturpreis in Frankreich, den Prix Goncourt. Obwohl sie nicht Literatur studiert hat, hat sie sich selbst an ihr geschult und erprobte den Stil der verschiedenen Klassiker. Die Kritik war sofort begeistert. In ihren Texten dringe NDiaye in die „Wildgebiete der Seele“ vor und erkunde „Seelenschächte“, wie es in Rezensionen heißt.
In „Die Rache ist mein“ stößt sie in undurchdringbare Gefilde vor. Denn was ist Wahrheit, was Lüge? Und soll man die Vergangenheit ruhen lassen oder sich Gewissheit über die Dinge und Menschen verschaffen, die einen umgeben? Das sind Fragen, die sich der Anwältin Maître Susane stellen. Denn dieser Mann, der nun vor ihr steht und darum bittet, dass sie die Verteidigung seiner Frau übernimmt, könnte der Junge aus reicher Familie gewesen sein, der ihrem Leben einst eine unerwartete Wendung gab. Oder ist alles nur Täuschung?
Neben der Mörderin und der Anwältin gibt es eine dritte Frau: die Haushaltshilfe der Anwältin, die illegal aus Mauritius eingewandert ist. Es sind drei Frauen, „die auf unterschiedliche Art im Netz der Gesellschaft gefangen sind, mit den Erwartungen und Rollen“, sagt Annalisa Engheben. Die in Italien geborene Regisseurin wird im Kammertheater den Roman inszeniert und beschreibt die drei Frauen so: Da ist die Einwanderin ohne Papiere, „die den Dreck der Mittelschicht beseitigt“, wie es Engheben nennt. Da ist „die junge bürgerliche Mutter, die der Familie zuliebe ihren Beruf aufgegeben hat und dann in einer Box landet, die mit ,Mutter’ und ,Ehefrau’ markiert ist“. Und die Anwältin, sagt Annalisa Engheben, ist eine „soziale Aufsteigerin aus kleinen Verhältnisse“. Sie identifiziere sich total mit ihrer Arbeit und verzichte dafür auf ihr privates Leben. „Sie gibt sich dem Schmerz des sozialen Aufstiegs hin“, meint Engheben.
Annalisa Engheben hat an dem Roman besonders fasziniert, dass man beim Lesen den Eindruck habe, dass „die sichtbare Welt verrutscht“ und man eine verborgene andere Welt erahne. Wie bringt man das aber auf die Bühne? Sie möchte sich vor allem auf die Stimmungen und die Zustände konzentrieren und weniger auf die Handlung, erzählt die Regisseurin. Auch wenn Roman und Theater gänzlich verschiedene Gattungen sind mit unterschiedlichen Strategien und Erzählweisen, ist sie überzeugt, dass die drei Frauen tragische Figuren sein, „die man gerne auf der Bühne sich austoben lässt“, wie sie sagt. Selbst wenn sie in der gegenwärtigen Gesellschaft verankert seien, würden sie archaische Gefühle umtreiben, extreme Gefühle an der Grenze.
Im Kammertheater wird Therese Dörr die Anwältin spielen und Celina Rongen die Kindsmörderin. Ist sie tatsächlich einfach nur ein Scheusal? Im Roman erfährt man, dass sie als Kind sexuell missbraucht wurde. Und offenbar sah sie die Morde als einzige Möglichkeit an, um sich aus ihrer Ehe befreien zu können. So schreibt Marie NDiaye, dass sie im Gefängnis nun endlich ein eigenes Zimmer habe, nachdem sie sich Jahre lang nach einem kleinen „Bett für sich allein“ gesehnt hat.
ADRIENNE BRAUN
Premiere am 11. März, Kammertheater Stuttgart
Karten für Mitglieder: 14.03., 15.03., 16.03., 17.03., 18.03.