Hundert Prozent Theaterbilder
Die Oper Stuttgart wagt sich an Bachs Johannes-Passion und ihre ewig aktuelle Frage: Was ist Wahrheit?
„Es ist kein Theater. Es ist ein Gebet, es ist eine Meditation“, sagte der Regisseur Peter Sellars über die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Kein Theater? Inszeniert hat Sellars das Werk trotzdem und er ist nicht der Einzige. Gerade die von Bach auffallend dramatisch angelegte und von manchen seiner Zeitgenossen genau dafür kritisierte Johannes-Passion reizt immer wieder zu einer theatermäßigen Umsetzung, sei es nur angedeutet als szenisches Konzert, sei es voll ausgestattet auf der Opernbühne.
Erstmals aufgeführt wurde die Johannes-Passion am Karfreitag 1724, unter Leitung des Komponisten und wie seinerzeit üblich als Bestandteil eines Gottesdienstes. Seitdem hat sich das Werk in Kirchenkonzerten und Konzertsälen fest etabliert. Szenische Verwirklichungen stehen indes unter besonderer Beobachtung, mal gelingt es, mal nicht, und viele, die Bachs Musik lieben, sind ohnehin skeptisch.
Nun also ist Stuttgart an der Reihe, eine an Bach-Konzerten reiche und mit seiner Musik nicht zuletzt durch viele Chorprojekte überaus erfahrene Stadt. Am Palmsonntag, dem 2. April, bringt die Staatsoper eine inszenierte Johannes-Passion heraus. Ulrich Rasche ist für Regie und Bühne verantwortlich, am Dirigentenpult steht Diego Fasolis. Ein Wagnis? Eher eine eigenständige Sichtweise, sagt Franz-Erdmann Meyer-Herder, der zuständige Dramaturg: „Wir sind ein Opernhaus und wir unterstreichen das Opernhafte des Werks“.
Die Idee an sich stammt aus der Pandemie-Zeit, die Produktion war schon einmal angekündigt und wurde dann aufgeschoben. Schon damals hat das Regieteam interessiert, wie sich Emotionen in einer Ausnahmesituation darstellen: „Es gab kollektive Gefühle von Trauer und Machtlosigkeit, aber es entstanden auch Widersprüchlichkeiten“, erläutert Meyer-Herder. Das habe sich seitdem kaum verändert. Insbesondere die zentrale Frage, die Pilatus in der Johannes-Passion stellt – „was ist Wahrheit?“ – und die Art, wie der Streit, ob Christus nun der Messias sei oder nicht, eine Gemeinschaft auseinanderbrechen lässt, hätten an aktuellen Bezügen nichts eingebüßt.
„Das bedeutet aber nicht, dass wir die Realität von der Straße auf der Bühne abbilden wollen“, stellt der Dramaturg klar. Die Regiearbeiten von Ulrich Rasche – darunter auch das Stuttgarter „Kirchenlieder-Chorprojekt“ von 2005 – entfalteten „zu hundert Prozent Theaterbilder“. In der Johannes-Passion will die Staatsoper vor allem die Bedeutung von Ritualen als gesellschaftlicher Klammer und deren Gefährdung untersuchen. Tatsächlich kann man die Teile des Werks, in denen sich der Chor in teils bitterbösen Forderungen und Beschimpfungen ergeht, als Spiegelbild heutiger gesellschaftlicher Zustände auffassen. Andererseits gibt es in der Johannes-Passion die Choräle und Arien, kollektive oder individuelle „Andacht in bester pietistischer Manier“, wie Franz-Erdmann Meyer-Herder sagt. Eine Inszenierung des Werks, eigentlich jede künstlerische Befragung muss mit diesen Widersprüchen umgehen. Die Frage, was Wahrheit ist, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.
Text: Jürgen Hartmann
Johannes-Passion / 7., 9., 14., 16. 20., 22., 25., 29. April / Opernhaus Stuttgart / Karten für Mitglieder: 49-105 Euro