Geschichte und Geschichten
Sechs Kunsterlebnisse führen von Mai bis Juli an außergewöhnliche Orte
Kurz bevor die Sammlung von Charlotte Zander das Schloss Bönnigheim verlässt, bietet die Kulturgemeinschaft am 16. Mai noch einmal eine Führung an. Eine 24-jährige Geschichte geht zu Ende, eine der wichtigsten Sammlungen naiver Kunst wird ab Juni nicht mehr an einem Ort zu sehen sein. Sechs Jahre nach dem Tod der Sammlerin möchte ihre Tochter, Susanne Zander, die rund 4500 Arbeiten weltweit zeigen und in bestehende Sammlungen integrieren. Bevor Mirja Kinzler zu einem letzten Rundgang durch das Museum mit Werken von Henri Rousseau, Séraphine Louis, André Bauchant, Camille Bombois und anderen naiven Künstlern und solchen der Art Brut einlädt, führt sie durch das sehenswerte Städtchen, das von der Ganerbenburg über Fachwerkhäuser und Tortürme bis hin zum Bebenhäuser Hof und der erstmals 1100 erwähnten Cyriakuskirche einiges zu bieten hat.
Auch in Stuttgart schlummern an manchen Orten verborgene Geschichten und warten auf Neugierige, die sich für die Geschichte ihrer Stadt interessieren. 1927, im selben Jahr wie die Weißenhofsiedlung, entstand im Auftrag der Stadt die Siedlung Raitelsberg. Wer glaubt, zwischen Moderne und Tradition hätte damals ein unüberbrückbarer Gegensatz bestanden, reibt sich die Augen: Waagrechte Fensterbänder und Klappläden, Sattel- und Flachdächer, Zeilenbebauung, die sich hier und da doch wieder zu hofartigen Situationen schließt: Der Architekt Alfred Daiber und seine Mitarbeiter suchten und fanden eine harmonische Verbindung von Alt und Neu. Zur Einstimmung führt Ricarda Geib zu Werken der Zeit in der Staatsgalerie.
Degerloch, ein Ort der Kunst? Das ist wohl noch nicht jedem aufgefallen. Doch hier lebten Adolf Hölzel, Maria Lemmé, Ida Kerkovius und Max Ackermann. Darüber hinaus führt der Rundgang von Mirja Kinzler zur Gartenstadt Falterau, zu Kirchen und Skulpturen im öffentlichen Raum bis hin zum von Otto Herbert Hajek gestalteten Innenraum der katholischen Pfarrkirche und dem Atelier einer heutigen Fotokünstlerin.
Kornwestheim ist nicht nur die Heimat der Schuhfabrik Salamander, die Stadt hat auch zwei architektonische Highlights zu bieten. Ausgerechnet in der nationalsozialistischen Zeit errichtete Paul Bonatz, der Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofs, das Rathaus der Stadt mit einem erstaunlich modernen Rathaus- und Wasserturm. Fünfzig Jahre später beauftragte die Stadt nach einer Schenkung mehrerer hundert Werke aus dem Nachlass des Malers Manfred Henninger, die bis heute den Kern der Sammlung bilden, den bekannten Architekten Josef Paul Kleihues mit einem Museumsbau, der seit 2017 Kulturdenkmal ist. Michael Wenger führt durch das Rathaus, das Museum und auf den Turm.
Die Uhlandshöhe ist der Standort der ersten, vor hundert Jahren gegründeten Waldorfschule, benannt nach der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, deren Direktor Emil Molt die Gründung ermöglichte. Zugleich bietet das Schulgelände ein einzigartiges Ensemble anthroposophischer Architektur aus einhundert Jahren, vom Hauptgebäude in typisch anthroposophischen Formen über das Lehrerseminar von Rolf Gutbrod, das Hort- und Mensagebäude von Jörg Aldinger bis hin zum jüngsten Spross der Waldorf-Familie, dem kürzlich fertiggestellten neuen Verwaltungsgebäude von Stefan Behnisch. Täuscht der Eindruck oder hat Behnisch sich bei dem Bau – und vielleicht auch beim Dorotheen-Quartier – von der Waldorf- Architektur inspirieren lassen? Dazu und zu allen weiteren Fragen wird Ricarda Geib kompetent Auskunft geben.
Und was wäre ein Sommer in Stuttgart ohne einen Besuch im sogenannten Kommunistenwaldheim? Das Waldheim Gaisburg war das erste aller Waldheime, ins Leben gerufen von Friedrich Westmeyer, an den der Verein heute wieder mit einem Namenszusatz erinnert. Dazu wird Ilse Kestin vom Vereinsvorstand viel zu erzählen haben. Zudem lässt eine dialogische Lesung Westmeyers Leben und Ideen wie auch den Waldheim- Alltag wieder lebendig werden. Der Begründer der Waldheim-Idee war nicht nur Sozialist und Pazifist, sondern auch ein engagierter Kämpfer gegen das Wohnungselend in Stuttgart, das sich heute erneut breit zu machen droht. Die SPD bekämpfte den Kriegsgegner, warf ihn aus der Redaktion der Schwäbischen Tagwacht und aus der Partei. Doch Westmeyer gab nicht auf. Er gründete eine eigene Zeitung, »Der Sozialdemokrat«, wurde Landtagsabgeordneter und lud sogar Karl Liebknecht ins Waldheim Gaisburg ein, der, von den Stuttgarter Genossen befeuert, erst richtig auf Antikriegskurs ging.
Doch warum heißt es Kommunistenwaldheim? Die KPD gab es damals noch nicht. Sie wurde erst nach der Novemberrevolution 1918 gegründet. Dies sollte Westmeyer nicht mehr miterleben. Er wurde 1917 in den Krieg geschickt und starb kurz darauf an der Ruhr. Nach seinem Tod schrieb Rosa Luxemburg: »Ich dachte immer, er würde noch in großen Zeiten eine Rolle spielen.«
Dietrich Heißenbüttel