Frauen, auf nach Hamburg!
Gleich drei Stuttgarter Schauspielproduktionen sind für den Monica-Bleibtreu-Preis nominiert
Wo über Künstlerfamilien gesprochen wird, fällt bald der Name »Bleibtreu«. Meistgenannt ist dabei vermutlich Monica Bleibtreu, Tochter des Theaterdirektors Renato Attilio Bleibtreu und Mutter des Schauspielers Moritz Bleibtreu. Nachdem sie zeitlebens nicht nur als Professorin für Schauspiel an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater tätig gewesen war, sondern aufgrund famoser Leistungen auch Grimme-, Fernseh- und Filmpreise gewonnen hatte, widmete das Festival »Privattheatertage« ihr anno 2012 – drei Jahre nach ihrem Tod – den Monica-Bleibtreu-Preis. Dieser wird seither in Hamburg in den drei Kategorien »(Moderne) Klassiker«, »Komödie« und »(Zeitgenössisches) Drama« verliehen.
In diesem Jahr sind gleich drei Produktionen aus Stuttgart nominiert, was für die Qualität der hiesigen Szene spricht. Keine Stadt ist häufiger vertreten. Aus Berlin haben es beispielsweise lediglich zwei Bühnen geschafft. Großartiges entsteht eben nicht nur in Stuttgarts Staatstheatern. Auch die privaten Anbieter sorgen regelmäßig für gelungene Produktionen. Die Privattheatertage selbst werden dabei übrigens mit einer halben Million Euro aus Bundesmitteln unterstützt.
Doch wie schafft es eine Inszenierung überhaupt auf dieses Festival? So: Eine neunköpfige Jury bereist zunächst die Spielstätten aller Bewerber – das klingt nach einem gar nicht so schlechten Job. Daraufhin lädt sie pro Kategorie vier Theater nach Hamburg ein, die ihr Stück dann vor Ort präsentieren. An eine dieser zwölf Aufführungen, die vom 19. Juni bis zum 1. Juli zu sehen sind, wird zudem ein Publikumspreis für das beste Stück vergeben. Das erste Stück, mit dem die baden-württem bergische Landeshauptstadt vertreten wird, ist nicht nur ein, sondern vielleicht der Klassiker schlechthin. Shakespeares »Hamlet« wurde vom britischen Dichter Tennyson zum größten literarischen Werk überhaupt erklärt. Sätze wie »Sein oder Nichtsein« kennt jeder noch so hartnäckige Theaterverweigerer.
Die gut dreistündige Inszenierung von Dieter Nelle im Stuttgarter Forum Theater konnte die Jury überzeugen, weil sie das patriarchalische Grundmuster des Werks herausstellt: Der Prinzensohn Hamlet wird vom Geist des ermordeten Vaters zur Rache an dessen Bruder aufgefordert. Dabei reißt er jedoch alle ins Unglück, auch die im Grunde unbeteiligten Frauen, die in dieser Welt nichts zu bestimmen haben. Polonius, der gestrenge Vater von Hamlets Geliebter Ophelia, verbietet seiner Tochter gar den Umgang mit dem rachsüchtigen Prinzen.
In Nelles Regiearbeit finden sich daher neben Michael Ransburg, der Hamlet als einen vom unredlichen Establishment enttäuschten Skeptiker mimt, ausschließlich weibliche Darsteller. Wer wissen will, ob sich das Ensemble Chancen auf den Bleibtreu-Preis ausrechnen darf: In Stuttgart wird »Hamlet« noch vor den Privattheatertagen vom 14. bis zum 16. Juni gespielt.
Zum zweiten Botschafter der Stuttgarter Privattheaterszene avancierte in diesem Jahr das Theaterhaus. Intendant Werner Schretzmeier darf sich über eine Nominierung seiner Inszenierung von »7 Minuten« freuen (Titelfoto) . In diesem Stück von Stefano Massini stehen ebenfalls die Damen im Vordergrund – Stuttgart schickt in diesem Jahr also viele Frauen nach Hamburg. Elf Betriebsrätinnen stimmen darüber ab, ob man den neuen Eignern der Textilfirma entgegenkommen und die Pause von fünfzehn auf acht, also um sieben Minuten kürzen soll. Daraus entspinnen sich Überlegungen, die weit über die scheinbar banale Pausenstreichung hinausgehen. Muss ein Mensch heute dankbar sein, wenn er für einen anderen arbeiten darf? Was ist in solch einem System noch hinnehmbar? Und wie unterscheiden sich die Antworten auf derlei Fragen im Hinblick auf verschiedene Kulturen: Aus zehn Ländern stammen die elf Frauen, eine Griechin, eine Kongolesin und eine Syrerin treffen da etwa aufeinander. Was sie über den Kapitalismus denken, erfährt man auch noch vor der Hamburger Entscheidung am 8. und 9. Juni hier im Theaterhaus.
Die dritte nominierte Regiearbeit aus Stuttgart entstammt dem Studio Theater. »Hungaricum«, von den Brüdern Oleg und Wladimir Presnjakow geschrieben und von Christof Küster inszeniert, kontrastiert Globalisierung und Nationalismus. Doch nicht nur das. An einer Tankstelle an der ungarisch-österreichischen Grenze – heute ist der Nationalismus dort freilich noch stärker verbreitet als bei der Uraufführung 2010 – belügen und betrügen sich gescheiterte Existenzen: Ein Autoverkäufer gibt sich als Polizist aus und bestiehlt eine Kellnerin, eine scheinbar Verrückte schläft mit einem als LKW-Fahrer getarnten Mafioso, um an ihre Ziele zu gelangen. Nicht nur die Schauspieler, auch die von ihnen verkörperten Figuren schlüpfen hier immer wieder in andere Rollen. Wer von diesen schrägen Typen eigentlich wen vorführt, lässt sich vor Ort in dieser Spielzeit nicht mehr herausfinden – vor den Privattheatertagen ist »Hungaricum« in Stuttgart nicht mehr zu begutachten. Dafür dann aber vielleicht ja danach als Gewinner des Monica-Bleibtreu-Preises.
Cornelius W. M. Oettle