Explodierende Gedanken
«Wer einmal das Denken angefangen hat, der kann’s doch nicht wieder abstellen»
Denken ist geistiger Vorgang, der in unterschiedlichem Tempo verlaufen und in unterschiedliche Richtungen führen kann. Georg Büchner, (1813 – 1837), Schriftsteller, Mediziner und Revolutionär, ist durch sein hartnäckiges, radikales und konsequent sozial ausgerichtetes Weiterdenken in die politische wie literarische Geschichte eingegangen. Ohne Rücksicht auf seine persönliche Zukunft und die seiner Mitstreiter veröffentlichte er 1834 die Flugschrift „der Hessische Landbote“, in der er mit klaren Zahlen die ungleiche Verteilung der Güter anprangerte und politische Freiheit einforderte. In rascher Folge entstanden in den beiden folgenden Jahren die Stücke „Dantons Tod“, „Leonce und Lena“ sowie „Woyzeck“ – letzteres blieb Fragment. Im Februar 1837 starb Büchner mit nur 23 Jahren an Typhus.
„Was würde einer sagen, dem das Wort „Zukunft“ so übel mitgespielt hat und der zugleich als Autor zukünftig war, also seiner Zeit so unnachahmlich voraus?“, fragt der Dramatiker, Autor und Komponist Björn SC Deigner in der Ankündigung zu seinem Stück „Zeit wie im Fieber“ – Büchner Schrapnell“. Das Auftragswerk kommt am 11. November im Schauspiel Stuttgart zur Uraufführung. Regie führt Zino Wey, der dort bereits den Woyzeck inszenierte. Sylvana Krappatsch, Paula Skorupa und Gabriele Hintermaier sind auch diesmal wieder als Schauspielerinnen dabei. Ebenso die Dramaturgin Gwendolyne Melchinger.
Das Stück passt perfekt in den thematischen Rahmen, den das Haus für die neue Spielzeit ausgegeben hat: "Erinnerung an die Zukunft“. Vorwärts- und Zurückdenken treffen sich in diesem Fall irgendwo auf dem Weg zwischen Gestern und Morgen. Die beiden Protagonistinnen Julie und Lena denken über die Ursprünge der Ungerechtigkeit nach. „Wer einmal das Denken angefangen hat, der kann’s doch nicht wieder abstellen“, bemerkt Lena gleich zu Beginn. Vom Innern der Stadt, wo die Böden ausgetrocknet und die Kassen für Hospitäler und Schulen leer sind, machen sich die beiden Frauen auf den Weg zu den höhergelegenen Rändern. Dabei begegnen sie einer ganzen Reihe von Figuren aus dem Kosmos der Büchnerschen Dramen, von denen jede ihre eigene Form des Denkens kultiviert: Dem König, dem talentierten Pferd, der Ärztlerin, dem Bäcker oder dem Nachbarn, der nachdenklich auf seinen Steingarten blickt.
Theoretisch könnte das überall in Deutschland passieren. In Deigners Stück finden sich jedoch immer wieder Anspielungen auf Stuttgart. Mal ist vom Kessel die Rede, mal vom großen Bauprojekt, bei dem Röhren in die Erde getrieben werden und Häuser Risse entwickeln. Auch die Querdenker samt ihrer einfachen Antworten auf komplexe Fragen schauen vorbei.
Im Text verwebt Björn FC Deigner Textfragmente Georg Büchners mit Gedanken von Rudi Dutschke, Ulrike Meinhof, Peter Schneider, Max Weber und anderen. Die Aussagen werden mal vorgelesen, mal subtil in Dialoge eingewoben. Die Sprache ist geballt und zehrend. Kaum ein Gedanke bleibt unhinterfragt. Deigner bezeichnet sein Stück selbst nicht als Drama, Komödie oder Schauspiel, sondern als „Büchner-Schrapnell“. Ein Schrapnell ist eine mit Kugeln gefüllte Granate, deren Inhalt sich kurz vor dem Aufprall in alle Richtungen entlädt. Im Stück sind es Gedanken und Worte, die unvorhersehbar explodieren können. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich dabei oft nicht voneinander trennen: „Schau: die Vergangenheit strahlt bis zu uns, es ist alles da und vor uns auch da gewesen“, bemerkt Lena. Antworten kann das Gestern dem Morgen nicht geben, wohl aber den Impuls, Fragen zu stellen und mit „lachendem Mut“ weiterzudenken.
Angelika Brunke
Zeit wie im Fieber // 14., 15., 28., 30. November / Kammertheater