Es geht weiter – aber wie?
Auch die Konzertdirektion Russ feiert ihr 75-jähriges Bestehen
Als Musikfreund empfindet man es in Stuttgart als Selbstverständlichkeit, eine reiche Auswahl an Konzerten mit klassischer und populärer Musik zu haben. Egal ob man das Recital eines Star-Pianisten, das aufregende Programm eines jungen Streichquartetts oder die große Kunst eines internationalen Spitzenorchesters hören möchte – in Stuttgart kann man all das in schöner Regelmäßigkeit bekommen, dank der Südwestdeutschen Konzertdirektion Stuttgart Erwin Russ GmbH, kurz SKS Russ. Die besteht seit 75 Jahren, doch so recht nach Feiern dürfte der Mannschaft nicht zumute sein. Als Michaela Russ, die Geschäftsführerin der SKS, im Juni von der Kulturgemeinschaft zu ihrer Gefühlslage im Angesicht der Corona-Pandemie gefragt wurde, äußerte sie noch die Hoffnung, dass die nun beginnende Saison wieder Normalität versprechen würde: »Zusammen mit den Nachholterminen gibt das eine ganz besondere Spielzeit, mit so vielen Veranstaltungen wie selten zuvor: Wir freuen uns auf über fünfzig Konzerte, vom A-cappella-Programm bis zu internationalen Spitzenorchestern, und auf großartige Solistinnen und Solisten.«
Von den Wiener bis zu den New Yorker Philharmonikern
Genau das, was Michaela Russ, die vor fünf Jahren ihren Vater Michael an der Spitze des Unternehmens abgelöst hat, beschreibt, war in Stuttgart seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Realität, als ihr Großvater Erwin damit begann, Konzerte zu veranstalten. Im Jahr 1976 übernahm Michael Russ die Geschäfte von seinem Vater und holte zügig und in dichter Folge alles nach Stuttgart, was in der Klassikszene Rang und Namen hatte, von den Wiener bis zu den New Yorker Philharmonikern, von Daniel Barenboim bis zum Kult-Pianisten Grigory Sokolov. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht, denn Stuttgart ist nun mal keine Weltstadt wie München oder Berlin. Es spricht aber für das, was die Fachwelt immer wieder zum Ausdruck brachte: Vater und Tochter Russ haben nicht nur unternehmerisches Geschick, sondern sie gelten als Vorzeige-Veranstalter, bei denen sich Künstler umsorgt und heimisch fühlen dürfen. In der Regel wissen die Konzertbesucher wenig davon, welche Kapriolen hinter den Kulissen bisweilen zu schlagen sind, welche Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen sind, damit die Künstler am Abend Bestleistungen bieten und die Zuhörer Kunst auf höchstem Niveau genießen können. Dass die Großen der E- und U-Musik, auch diejenigen, die als kapriziös, schwierig oder divenhaft gelten, regelmäßig hier gastieren, spricht Bände. Doch nun, ausgerechnet im Jubiläumsjahr, machen die Schutzmaßnahmen dem Konzertveranstalter einen Strich durch die Rechnung. Maximal 499 Zuhörer dürfen laut Corona-Verordnung vorerst zu Konzerten kommen. So viele passen mit jeweils zwei leeren Stühlen Abstand zwischen den Besuchern in den Beethoven-Saal, im kleineren Mozart-Saal finden nur zweihundert Personen Platz. Programme werden auf pausenlose 75 Minuten gekürzt, dafür spielen die Künstler zweimal an einem Tag, jeweils um 17 und um 20 Uhr, sodass möglichst viele Musikfreunde in den Genuss kommen.
Der Freuden-Schein trügt
Das alles klingt auf den ersten Blick nach einem Neustart, nach einem Anlass zu zurückhaltender Freude. Doch der Freuden-Schein trügt, wenn man auf die nackten Zahlen blickt. Wer sich ein bisschen mit dem Musik-Geschäft auskennt, der weiß, dass Klassik-Konzerte selten kostendeckende Veranstaltungen sind. Zu den (nicht immer üppigen) Honoraren für die Künstler kommen Reise- und Unterbringungskosten sowie Werbe- und Personalkosten. Konzerte in der E-Musik sind schon im Normalfall finanziell auf Kante genäht. Durch die Reduzierung der Plätze, die unter den aktuellen Bedingungen überhaupt verkauft werden dürfen, gerät das Ganze aus unternehmerischer Sicht in eine deutliche Schieflage. Das gilt auch für die Reihe »Faszination Klassik«, die SKS Russ und Kulturgemeinschaft seit einigen Jahren gemeinsam veranstalten.
Vater Michael und Tochter Michaela nehmen denn auch kein Blatt vor den Mund und fordern von der Politik mehr Unterstützung und Vorgaben für eine bessere Planbarkeit. Vor der Sommerpause hatte Michael Russ das mit deutlichen Worten in einem offenen Brief bei Ministerpräsident Winfried Kretschmann eingefordert: »Wenn wir nicht bis Anfang September eine bindende Zusage für Konzerte mit wenigstens bis eintausend Besuchern bekommen, wird für jeden privatwirtschaftlichen Veranstalter die Konzertsaison 2020/2021 undurchführbar.« Jetzt, unmittelbar vor dem Start in eine mutmaßlich schwierige Saison, legt Michaela Russ nach und weist darauf hin, dass demnächst alle Rücklagen sowie Hilfsgelder aufgebraucht seien.
Naturgemäß gibt es auch in Stuttgart viele Menschen, denen sich der Sinn und die Notwendigkeit von Kulturveranstaltungen nicht erschließen. Doch mit ihrer 75-jährigen Arbeit hat die SKS Russ einen großen Anteil daran, dass es hier in der Stadt und in der Region ein großes Publikum mit breiter Altersspanne gibt. Klassik ist hier kein elitäres Nischenprodukt. Doch wenn die Forderungen der Kulturszene, in der die SKS Russ schon immer eine wichtige Säule war, bei den politischen Entscheidern nicht bald auf fruchtbaren Boden fallen, dann dürfte es im Jubiläumsjahr düster aussehen. Weiter geht es – aber wie?
Markus Dippold