Er, der alles kennt und kann
Respektiert und kritisiert: der Komponist Camille Saint-Saëns
»Niemand kennt die Musik der ganzen Welt besser als Monsieur Saint-Saëns.« Ist es Hochachtung oder scharfe Kritik, die aus diesen Worten Claude Debussys über seinen Kollegen sprechen? Sicherist in jedem Fall, dass Camille Saint-Saëns ein ebenso umfangreiches wie stilistisch vielseitiges Werk hinterlassen hat, von dem nur wenig im kollektiven Bewusstsein haften blieb.
Stuttgarter Kammerorchester / 1. Januar 2024 / Liederhalle, Beethoven-Saal / Karten für Mitglieder: 22-46 Euro ; Freier Verkauf: 28-60 Euro; Ermäßigung für Schüler:innen und Studierende
Ein Grund dürfte Saint-Saëns’ Eklektizismus sein, also die Imitation älterer Stile. Namentlich die Sinfonien Ludwig van Beethovens hatten es ihm angetan, insbesondere die Instrumentierungseffekte sowie der Umgang mit dissonanter Harmonik. Überhaupt war Saint-Saëns ein gelehriger Musiker, der neben dem eigenen Schaffen zahlreiche Neueditionen älterer Werke, etwa von Rameau und Gluck, verantwortete. Kein Wunder also, dass man in so manchen seiner melodischen Floskeln und strukturellen Elemente den Eindruck hatte, das alles bereits zu kennen.
Aber rechtfertigt das ein so drastisches Urteil, wie es sein Kollege Maurice Ravel nach dem Ende des Ersten Weltkriegs formulierte: »Wenn Saint-Saëns den großen Krieg damit verbracht hätte, Patronenhülsen zu reinigen, hätte er der Musik einen weitaus größeren Dienst geleistet.« Etwas neutraler formuliert, ist das gängige Urteil, seine Musik sei »gelehrt«, habe ihren Reiz vor allem in ihren elaborierten Strukturen, ohne emotional wirklichen Eindruck zu machen.
Im Dreikönigskonzert des Stuttgarter Kammerorchesters kann man das am Beispiel der 2. Sinfonie a-Moll (1859) überprüfen. Deren 1. Satz ist eine deutliche Reverenz an Beethoven, während Saint-Saëns im zweiten einem Lieblingsinstrument seines Landsmannes Hector Berlioz huldigt, dem Englischhorn mit seinem charakteristisch nasalen Klang. Im Finale wiederum zeigen sich Anleihen an die kühne Satztechnik eines Mozart und Haydn mit der raffinierten Verbindung aller vorherigen Themen. Brillant und unterhaltsam auf hohem Niveau ist das allemal. Ähnliches gilt für das zweite Werk in diesem Programm: »Odelette« ist eine heiter-charmante Komposition mit weit ausgreifenden Läufen und Figurationen der solistischen Querflöte, die ganz dem Zeitgeist der gefälligen Salonmusik huldigt.
Camille Saint-Saëns nahm die zwiespältigen Reaktionen auf seine Musik eher achselzuckend zur Kenntnis: »Für Kritik und Lob bin ich kaum empfänglich – nicht etwa aus übertriebenem Selbstwertgefühl, sondern weil ich im Hervorbringen meiner Werke einem Gesetz meiner Natur folge, so wie ein Apfelbaum Äpfel hervorbringt, und mich also nicht darum zu kümmern brauche, was man für eine Meinung von mir hat.« Diese Unangepasstheit scheint er auch in anderen Zusammenhängen an den Tag gelegt zu haben. Zu abendlichen Treffen in den Salons von Paris tauchte er gerne mal in auffallend mondäner weiblicher Kleidung auf und huldigte exzessiv dem Kokain. Monatelang verschwand er aus der europäischen Öffentlichkeit, reiste immer wieder nach Nordafrika und in den Nahen Osten. Teils geschah das aus medizinischen Gründen, teils um dort ohne Angst vor Verfolgung seine homoerotischen, aber auch pädophilen Neigungen auszuleben. All das gipfelte1890 in einer Krise: »Das Leben war mir unerträglich geworden und konnte nur zu Wahnsinn oder Selbstmord führen, daher bin ich aufgebrochen.« Am Ende blickt dieser ebenso formbewusste wie virtuose Eklektiker resigniert auf ein langes und arbeitsreiches Leben zurück: »Ich bin die Zukunft gewesen.«
Markus Dippold