Energievoll und farbenreich
Das Stuttgarter Kammerorchester feiert sein 75-jähriges Jubiläum
Vivaldi, Händel, Johann Hermann Schein: Dessen Suite aus seinem »Banchetto musicale« bildete am 18. September 1945 den Auftakt zum ersten Konzert des Stuttgarter Kammerorchesters, und mit genau demselben Programm startet das SKO an diesem 18. September in seine Jubiläumssaison. Der 75. Geburtstag des »ältesten Kammerorchesters der Welt«, wie es inzwischen tituliert werden darf, wird zu Beginn und im Verlauf dieser Spielzeit trotz Corona-Bedingungen gebührend gefeiert werden. Der Saison-Auftakt in den Wagenhallen schlägt den Bogen zurück zum ersten Auftritt des von Karl Münchinger nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründeten Orchesters im Festsaal des Furtbachhauses inmitten der Ruinenfelder der zerbombten Stadt. »Unten im Saal, auf den Galerien und auf dem Podium waren sie alle gleich schäbig gekleidet und mager. Gleich waren sie aber auch in einem: im Glauben an die tröstende und beglückende Macht ewiger Musik«, stand in der Festschrift zum 10-jährigen Jubiläum 1955 zu lesen.
Befreit von sinfonischer Patina
Die von Karl Münchinger in jenem ersten Jahrzehnt ausgerichteten Banchetti musicali waren ganz vorwiegend dem Barock und der Klassik vorbehalten. Und doch klang diese Musik plötzlich unglaublich frisch, transparent, befreit von der Patina sinfonischer Besetzung, mit der auch Bach, Haydn, Mozart damals musiziert wurden. Lange vor der Entdeckung der »historischen Aufführungspraxis « sorgte Münchinger mit seinem Stamm von 17 Streichern, zu denen je nach Werk ausgesuchte Bläser hinzukamen, für einen höchst beweglichen, dynamisch kontrastvollen Klang, der in der Folge auch zum Markenzeichen weiterer Ensembles wie der Musici di Roma oder der Acacemy of St. Martin-in-the-Fields wurde. Wenige Jahre nach Kriegsende gastierte das Stuttgarter Kammerorchester als erstes deutsches Ensemble 1949 in Paris, im selben Jahr erschien bei Decca seine Einspielung der Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach, die damals Maßstäbe setzte. Bei Gastspielreisen in Europa, China und Südamerika wurde Karl Münchinger mit seinem Orchester zum musikalischen Botschafter der jungen Bundesrepublik. In späterer Zeit, bis zu seinem Abschied nach über fünftausend Konzerten in 41 Jahren, stagnierte das Repertoire, und manchmal, wie zum Beispiel bei Auftritten im Ludwigsburger Schloss, wo er auch in den 1970er Jahren die großen Bach-Oratorien aufnahm, wirkte der weißhaarige Maestro wie ein Sonnenkönig.
Repertoire-Erneuerung mit Energieschub
Repertoire-Erneuerung war nun angesagt, und manche sahen damals die Existenz des Ensembles gefährdet. Zunächst wurde Martin Sieghardt nach einem Einspringen vom SKO als Chefdirigent engagiert. Vor allem Dennis Russell Davies sorgte von 1995 bis 2006 für frische Impulse und erweiterte den Horizont der Aufführungen enorm. Musik des 20. Jahrhunderts spielte in seinen Programmen eine gewichtige Rolle: Eine Schallplatten-Einspielung von 1997 unter dem Titel »Dolorosa« mit Werken von Schostakowitsch, Schnittke und Peteris Vasks bezeugt diesen Trend, doch andererseits bleibt auch sein »Haydn Spass« in bester Erinnerung. Von diesem Zyklus, der über mehrere Jahre hinweg auch an ungewöhnlichen Orten wie dem Mercedes-Benz-Museum abgehalten wurde, gibt es eine Box mit 33 CDs: »Haydn – The Complete Symphonies«. Weitere, zum Teil auch auf Schallplatte dokumentierte Highlights waren Uraufführungen von Glass, Bolcom und Henze sowie CDs mit Keith Jarrett, Jan Gabarek oder dem Hilliard Ensemble. Die Aufführung von William Bolcoms Melodrama »Medusa« 2003 in der Carnegie Hall durch das Stuttgarter Kammerorchester wurde vom Kritiker der New York Times als »vigorous and colorful «, also als energievoll und farbenreich bezeichnet. Wesentlicher Teil der erfolgreichen Jahre von 1995 bis 2011 war auch der Konzertmeister Benjamin Hudson, Primarius des Columbia String Quartets und First Chair des Brooklyn Philharmonic Orchestra, den Davies aus New York mitbrachte.
Nachfolger des aufgrund seiner Verdienste zum Ehrendirigenten ernannten Dennis Russell Davies wurde Michael Hofstetter, der den Spagat zwischen »historisch informierter Aufführungspraxis « und breit gestreuter Werkauswahl versuchte. Mit seinen »Schwabenstreichern« gab es zum Beispiel ein »Hörerlebnis« zum fünfzigsten Todestag von Jean Sibelius oder Kombinationen von Barockmusik mit neuer Musik wie Jörg Widmanns »Insel der Sirenen« 2009. Ab 2013 prägte Matthias Foremny – im Jahrzehnt zuvor Operndirektor am Staatstheater Schwerin – das Profil des SKO durch fein ausgehörte Klangbalance und reizvolle Programme, die er dem Publikum auch gesprächsweise vermittelte. Seit letztem Herbst ist nun der Salzburger Violinvirtuose Thomas Zehetmair, dessen Neuaufnahme aller Partiten und Solo-Sonaten von Johann Sebastian Bach gerade mit dem Opus Klassik ausgezeichnet wurde, Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters. Im Jubiläumskonzert am 19. September bringt er mit seiner unverwechselbaren, die Musiker und das Publikum begeisternden Dynamik Bartóks Divertimento für Streichorchester und Mozarts große Es-Dur-Sinfonie KV 543 zu Gehör. »Glänzende Zeiten« ist das Konzert tituliert. Fürwahr ein passendes Motto.
Dietholf Zerweck