Einsame Werke: Angeklickt, gelikt – und wieder vergessen
Ist Digitalisierung eine Lösung in Anbetracht geschlossener Museen?
Es ist ein Alptraum. Als Dorian Gray vor seinem Porträt steht, muss er feststellen: Es hat sich verändert. Auf dem Bildnis hat sich in sein hübsches Gesichts ein »verschlagener Ausdruck« geschlichen und um den Mund »die Falschheit des Heuchlers in tiefen Furchen eingegraben«. Charakter und Aussehen passen eben nicht immer zusammen, so die Botschaft von Oscar Wildes Roman »Das Bildnis des Dorian Gray«. Mit der Idee eines Porträts, das auf das Gegenüber reagiert, warf Wilde aber auch eine spannende Frage über das Wesen der Kunst auf. Denn existiert ein Werk für sich oder braucht es Betrachter, die ihm Leben einhauchen?
Ein Gedanke, der sich in Zeiten von Corona auf ganz neue Weise stellt. Denn auch die Museen mussten wegen der Pandemie schließen. Den Kunstwerken müsste das eigentlich recht sein. Zumindest aus konservatorischer Sicht ist das Publikum eher Risiko als Notwendigkeit. Man muss gar nicht an mutwillige Beschädigungen denken, angeblich kann bereits der menschliche Atem Gemälden zusetzen. Auch das Licht ist heikel, vor allem für Grafik oder Textilien.
Trotzdem vermissen die Museen ihr Publikum derzeit schmerzlich – und bemühen sich redlich, Ersatz zu bieten. Baden-Württemberg hat in den vergangenen Jahren viel Geld in das Programm »Digitale Wege ins Museum« investiert, das den staatlichen Museen den Schritt in die Zukunft erleichtern will. Zwanzig Stellen wurden geschaffen, damit die Museumsbesucher künftig beim Rundgang durchs Museum Informationen auf ihrem Smartphone abrufen, Filme anschauen oder Kommentare hinterlassen können. Im Badischen Landesmuseum Karlsruhe stapft sogar schon ein Roboter durchs Foyer.
Eines der ganz großen Themen im Rahmen dieser Digitalisierung ist aber, dass die Museen ihre Sammlungen ins Netz gestellt haben. Open Access ist ein wichtiges Schlagwort der Zeit – und nicht nur Bibliotheken sind bemüht, ihre Bestände, also Texte und Bücher, online für jeden und jede verfügbar zu machen, sondern auch die Museen. Bereits 15.420 Werke stehen im digitalen Katalog der Staatsgalerie Stuttgart bereit. Auch das Linden- Museum Stuttgart hat nun seine Sammlung ins Netz gestellt mit Fotos und Informationen zu den Werken oder auch ihrem kolonialen Hintergrund. Bloß: Ist es tatsächlich ein Ersatz, am Schreibtisch Bilder anzuklicken, statt sie im Museum im Original anzuschauen? Ja und Nein. Für die Wissenschaft ist es extrem hilfreich, dass man von überall her Werke mit ein paar Klicks auf den Schirm bekommt, wo man sie oft besser studieren kann als im Original. Details lassen sich zoomen, was für Forschungszwecke wichtig ist.
Die Museen wollen aber auch ein breites Publikum erreichen. Sie verstehen es durchaus als gesellschaftliches Signal, Kunst und Kultur nicht mehr als Vergnügen privilegierter Connaisseure zu sehen, sondern die Sammlungen nun allen Menschen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Sicher wird der ein oder andere Interessierte das Angebot nutzen oder einzelne Werke im Netz suchen. Ein Ersatz für den Museumsbesuch, ein inspirierendes, sinnliches Vergnügen bieten die digitalen Sammlungen aber nicht. Deshalb hat das Linden-Museum auch einen Quiz ergänzt, bei dem etwa gefragt wird, ob es sich bei den gezeigten Objekten um Instrumente handelt oder nicht. Wem sehr langweilig ist, der wird vielleicht eine Runde mitspielen, aber man muss sich nichts vormachen: Für ein breites Publikum taugen die digitalen Sammlungen nicht, dafür sind sie zu wissenschaftlich und trocken konzipiert.
Es gibt inzwischen diverse Versuche, das Publikum im Netz mit Kunst zu versorgen – aber die Likes und Smileys, die die Menschen etwa bei Instagram hinterlassen, zeigen, dass es ein eher oberflächlicher Austausch zu sein scheint. Auch im Museum mag mancher nur durch die Räume flanieren, aber bei gemeinsamen Gesprächen und Führungen gibt es eben doch diesen besonderen Moment, wenn man eintaucht in ein Werk, wenn man sich konzentriert, einlässt und feststellt: Das Bild oder die Skulptur spricht zu mir und hat sogar sehr viel zu sagen.
Wiener Psychologen haben in Studien belegt, dass Kunstwerke im Museum nicht nur länger betrachtet werden als am Bildschirm, sie werden auch als gefälliger und interessanter eingeschätzt. Wer eine Ausstellung im Museum gesehen hat, erinnert sich an fast doppelt so viele Bilder wie jene, die die Werke nur auf dem Display sehen. Bei allen Chancen der Digitalisierung bleiben wir eben doch sinnliche Wesen. Auf dem Bildschirm mag man Kunstwerken nahe kommen können, im Museum aber kann man sich auch als körperliches Wesen in Bezug zu ihnen setzen, spürt die überwältigende Größe von Gemälden oder die Zartheit einer Skulptur mit allen Sinnen. Letztlich ist das für die Museen eine sehr gute Botschaft – denn so bald wird man sie nicht digital ersetzen können.
Adrienne Braun