Ein Orchester mit Charakter
Sascha Goetzel führt Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra zu internationalem Renommee
Wenn aktuell über die Türkei gesprochen oder geschrieben wird, geht es meistens um die schwierigen zwischenstaatlichen Beziehungen oder heikle politische Fragen. Kulturelle Aspekte kommen allenfalls am Rande vor, und dass es gerade im Hinblick auf die Musik interessante historische Fakten gibt, ist kaum bekannt. In den 1930er Jahren wirkten Deutsche wie der Komponist Paul Hindemith oder der von den Nazis kaltgestellte Berliner Intendant Carl Ebert in der Türkei am Aufbau einer Infrastruktur für die »klassische« Musik mit. Das erfolgte durchaus nicht im Sinne einer bloßen Übernahme – gerade Hindemith riet seinen türkischen Mitstreitern ausdrücklich, ihre kulturellen und musikalischen Wurzeln nicht zu kappen.
Der österreichische Dirigent Sascha Goetzel, der am 5. Dezember mit dem Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra in der von SKS Russ und Kulturgemeinschaft gemeinsam veranstalteten Reihe »Faszination Klassik« gastiert, geht noch einen Schritt weiter und bezieht aus einer ähnlichen Grundeinstellung eine überraschende musikalische Kreativität. Wenn seine Musikerinnen und Musiker die berühmte »Scheherazade« von Nikolai Rimsky-Korsakow spielen, erklingen zwischen den Sätzen kurze Improvisationen mit orientalischen Instrumenten und verweisen auf die Anregungen, die der russische Komponist von der Musik des Nahen Ostens erhielt. Auch in die »Orientalische Fantasie« von Milij Balakirew werden diese Instrumente einbezogen.
Sascha Goetzel ist seit 2009 künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Orchesters, das zu einem guten Teil aus jungen, an internationalen Musikhochschulen ausgebildeten Musikerinnen und Musikern besteht. Der Zusatz »Borusan« verweist auf den in Istanbul ansässigen Stahl-, Energieund Logistikkonzern dieses Namens, dessen Eigentümer über den Umweg einer Stiftung den Klangkörper finanzieren. Es gebe bei dieser ungewöhnlichen Konstruktion keine Einmischung seitens des Unternehmens, betont Goetzel, der das kurz »BIPO« genannte Orchester konsolidiert und mittlerweile international bekannt gemacht hat.
»Ein Orchester muss Charakter haben«, sagt der Dirigent, dessen Vater Mitglied der Wiener Philharmoniker war. Im Falle des BIPO gründet sich dieser Charakter auf einem besonderen »Dialekt«, dem »Orchesterkolorit als Trademark«, wie es Goetzel formuliert.
Er verspricht »eine wirklich spannende Klangreise weg von den Standardklängen « und wählt auch deshalb Werke aus, die andere Orchester seltener spielen. Der besondere Zugang zu Rimsky-Korsakow und Balakirew ist inzwischen auf einer CD dokumentiert, die dem BIPO im internationalen Konzertbetrieb zu einem gewissen Alleinstellungsmerkmal verholfen hat: »Die Leute freuen sich, wenn wir kommen«, betont Sascha Goetzel.
»Ich will mit der Musik helfen, dass die Menschen wieder aufeinander zugehen.« Sascha Goetzel
Der 1970 geborene, international gastierende und auf Chefposten in Finnland und Japan erfahrene Dirigent hat während seiner bisherigen Tätigkeit in Istanbul die Orchesterbesetzung stark erweitert und durch personelle Konsolidierung sowie Workshops mit renommierten Solisten exzellent positioniert. »Weitblick und Strategie« seien für diesen Prozess nötig gewesen, sagt Goetzel, der im Gespräch das Orchester scherzhaft mit einem Fußballteam ver - gleicht, als dessen »Coach« er sich verstehe. Zwölf Abonnement konzerte in Istanbul plus Sonderkonzerte und Tourneen unterscheiden sich als Pensum nicht von staatlich finanzierten Orchestern, und auch wenn das BIPO bei Auslandsgastspielen ein spezielles Repertoire mitbringt, werden zu Hause natürlich ebenso Brahms, Beethoven und Mahler gespielt.
Die politischen Entwicklungen in der Türkei wirkten sich auf seine Arbeit bisher nicht aus, berichtet der Dirigent. Er wolle »mit der Musik helfen, dass die Menschen wieder aufeinander zugehen «, sagte er der österreichischen Tageszeitung »Kurier«, und er sei überzeugt, dass »über die Brücke der Kunst die Menschen einander doch immer wieder zuhören«. Könnten die Gastspiele des BIPO auf internationalen Konzertpodien der Entfremdung zwischen Staaten entgegenwirken, es wäre sicherlich nicht die schlechteste Wirkung, die von der Musik ausginge.
Jürgen Hartmann