Ein Nilpferd im Ballett
Die große Choreografin Pina Bausch lebt in ihren Werken weiter
Ihre Karriere begann mit Buhrufen, erbittertem Widerstand und Kritiken über „Ekeligkeit“ – aber Pina Bausch wurde zur Ikone, zum erfolgreichsten deutschen Kulturexportartikel und einer der wichtigsten Choreografinnen des 20. Jahrhunderts. Am 30. Juni wiederholt sich ihr Todestag, Anfang Juni gastiert ihr Stück „Vollmond“ bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen, ihre Themen und ihre Stücke sind noch immer aktuell.
Als drittes Kind eines Gastwirts wurde Bausch 1940 in Solingen geboren, eigentlich hieß sie Philippine. Bereits in der Gaststätte ihrer Eltern beobachtete sie die Menschen und ihr Verhalten. Das Mädchen studierte beim Choreografen Kurt Jooss an der Essener Folkwang-Schule, als Stipendiatin in den USA lernte sie nicht nur den amerikanischen Modern Dance kennen, sondern auch das experimentelle New Yorker Theater der 1960er Jahre. Sie tanzte im Folkwang-Ballett und schuf dort bereits erste eigene Stücke. 1973 holte der tanzaffine Intendant Arno Wüstenhöfer sie an die Wuppertaler Bühnen – es war das Jahr, in dem der Stuttgarter Ballettwunder-Begründer John Cranko starb. Bausch benannte das Ballett umgehend in Wuppertaler Tanztheater um und begann, mit ihren neuartigen Stücken den Tanz zu revolutionieren.
Gleich ihr „Frühlingsopfer“ knallte 1975 mit archaischer Wucht auf die Bühne, getanzt wurde auf Torf, der an den Körpern der Frauen und Männer kleben blieb. Ungewöhnliche Requisiten verwendete sie auch weiter – eine Bühne voller Nelken oder voller Wasser, auch ein riesiges Nilpferd findet sich in ihren Abendfüllern an der Grenze zwischen Schauspiel und Tanz.
Ihre Stücke wie „Café Müller", „Nelken“ oder „Masurca Fogo“ haben keine Handlung, zu Musikcollagen reiht sie montageartig Szenen über zwischenmenschliche Beziehungen aneinander. Bausch zeigt die Sehnsüchte der Menschen, ihre Neurosen oder Blockaden, die Verletzungen aus der Kindheit und die Manipulationen zwischen den Geschlechtern. Oft genug sehen wir eine Gesellschaft, die ihre Verunsicherung durch Heiterkeit überspielt und ihr Glück in illusionärer Verklärung sucht. Bauschs Tänzer schreien, lachen, weinen oder singen, sie seziert unser Verhalten und konfrontiert uns damit. Oft sind es rätselhafte, fast absurd aneinander gefügte Episoden, die tief in die Psychologie der Menschen weisen. Es ist ein Tanz des Andeutens, der seine Themen in Metaphern und kleinen Bildsplittern einkreist, sie quer durch den Abend variiert und das Zusammenpuzzeln dem Zuschauer überlässt. „Manchmal bin ich erstaunt, dass das, was ich sage, wohl doch so verschlüsselt ist, denn ich denke: Es ist doch so offensichtlich“, sagte Bausch in einem Interview.
Getanzt wird mit wildem Furor, in lyrisch-ausdrucksvoller Bewegung oder elegant als Gesellschaftstanz, etwa in „Kontakthof“. Vor allem in Bauschs späteren Werken findet man immer diese raumgreifenden Solos, in denen die Tänzer ihre Arme so vielsagend einsetzen, diesen freien, nie verkrampften Ausdruckstanz. Die Frauen wirbeln im typischen Bausch-Look über die Bühne: barfuß, mit langen Haaren und in bunten, schwingenden Abendkleidern, die Männer tragen oft Anzüge.
Ihre Wuppertaler Tänzer waren allesamt klassisch ausgebildet, ihr Vokabular aber entfernte sich weit vom Ballett. Neu (und inzwischen umstritten) war die Arbeitsmethode der Choreografin, die ihren Tänzern Aufgaben gab, sie über bestimmte Fragen nachdenken ließ. Aus den gelieferten Antworten und Bewegungsmotiven kondensierte Bausch dann ihre Werke, sie sichtete, sortierte, verdichtete. Die Tänzer kehrten ihr Innerstes nach außen, brachten Seelenzustände oder Erinnerungen ein. Bausch war Kult, für die Zuschauer wie die Mitwirkenden, und sie hatte großartige, ungewöhnliche Persönlichkeiten in ihrem Ensemble. Vier von ihnen – Malou Airaudo, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster und Dominique Mercy – haben gerade im April den Deutschen Tanzpreis 2023 erhalten für ihr „bedingungsloses Mitwirken“ an einer neuen Tanzästhetik.
Die Kettenraucherin Pina Bausch starb am 30. Juni 2009 in Wuppertal an Lungenkrebs. Ihre Kompanie lebt heute noch, kämpft aber ständig damit, zusätzlich zum Bausch-Repertoire moderne Tanzschöpfer der gleichen Qualität zu finden, die neue Werke für sie kreieren. Salomon Bausch, der Sohn der Ikone, bewahrt mit der Pina-Bausch-Stiftung das Andenken an die Künstlerin, das riesige Archiv aus Fotos, Videos, Kostümen und Erinnerungen soll irgendwann digital zugänglich sein. Inzwischen dürfen auch andere Kompanien die berühmten Stücke nachtanzen, so werden sie endgültig zu Klassikern.
Angela Reinhardt
Pina Bausch Vollmond // 9. und 10. Juni / Forum Ludwigsburg / Karten für Mitglieder: 40,50-67,50 Euro