Die Tanzregion Stuttgart startet durch
Vom verzweifelten Kronprinz bis zur peitschenknallenden Domina: Der Herbst bringt Tanz in sämtlichen Variationen
Gleich von Beginn an spielt die Tanzregion Stuttgart in der neuen Saison ihre gesamte Vielfalt aus: Von der hehren Klassik bis zum zeitgenössischen Konzepttanz findet sich fast jede Stilrichtung, in Stuttgart und um Stuttgart herum ist für jedes Interesse, jede Vorliebe etwas dabei. Mit zwei Kompanien in der Landeshauptstadt und den zahlreichen Gastspielen im näheren Umkreis genießt das Stuttgarter Publikum ein derart reiches Angebot an modernem Tanz, vor allem an modernem Ballett, dass wir von Zuschauern in Berlin oder München oft genug um diese Fülle beneidet werden. Und die Mitglieder der Kulturgemeinschaft haben bequem und aus einer Hand Zugang zu all diesen Tanzereignissen. Die ersten Gäste sind die jungen Tänzer des Bayerischen Junior Balletts, das in der Schwabenlandhalle gastiert (24. / 25. 9.). Als Übergang zwischen Akademie und Berufseinstieg wurde diese erste deutsche Juniorkompanie 2010 in München gegründet, noch vor dem Hamburger Bundesjugendballett, und machte seitdem unter anderem mit ihrer Neueinstudierung des »Triadischen Balletts « von Oskar Schlemmer Furore.
Unter der Leitung des vormaligen Münchner Ballettchefs Ivan Liška zeigen die 16 Tänzer in Fellbach ein Programm von Klassik bis Moderne. Angefangen bei einem Ausschnitt aus »Schwanensee « über eine moderne Interpretation von Modest Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung« bis zu einem Jazzballett für lebensgroße Fingerpuppen sind u.a. Choreografien von Terence Kohler, Maged Mohamed oder Norbert Graf zu sehen. Fast alle entstanden speziell für diese jungen Tänzerinnen und Tänzer, die zwischen 17 und 22 Jahre alt sind und einen ganz speziellen Enthusiasmus, eine ganz besondere Frische mitbringen. Neue Spielzeit, neuer Direktor, neue Ideen beim Stuttgarter Ballett: Statt eines traditionellen Abendfüllers wie »Dornröschen« präsentiert der neue Intendant Tamas Detrich den klassischen Spitzentanz in einem exquisiten Dreiteiler. »Shades of White« (ab 17. 10.) huldigt den so genannten »weißen Akten« des romantischen Balletts, wo das weibliche Corps de ballet in weiten geometrischen Formationen über die Bühne schwebt, wie etwa in »Giselle«. Detrich schlägt mit seiner Zusammenstellung den Bogen von der alten Tradition über die Neoklassik amerikanischer Prägung bis zu einer ungewohnt Kavalier-lastigen Preziose von John Cranko, damit nicht nur die Damen tanzen. Im Zentrum steht das »Königreich der Schatten«, eine Szene aus dem dritten Akt des Klassikers »La Bayadère«, der beim Stuttgarter Ballett noch nie zu sehen war. Hier liegt der Krieger Solor im Opiumrausch und sehnt sich nach seiner toten Geliebten, der Tempeltänzerin Nikija, die in seinem Traum von einer ganzen Schar von ihresgleichen begleitet wird.
In einer endlosen, magischen Reihe steigen diese »Schatten« als Ballerinen in weißen Tutus quasi vom Himmel herab, es folgen diffizile Variationen und ein großer Pas de deux, bei dem Solor und Nikija durch einen weißen Schleier verbunden sind. Die legendäre russische Startänzerin Natalia Makarowa brachte 1980 die damals unbekannte »Bayadère« als erste in den Westen, sie studiert nun höchstpersönlich ihre zum Klassiker gewordene Version des so genannten »Schattenaktes« in Stuttgart ein.
Ergänzt wird der Abend durch John Crankos feinziseliertes »Konzert für Flöte und Harfe«, worin zwölf Herren in edlem Weiß zu Mozart-Musik zwei Solistinnen umschwärmen, sowie durch George Balanchines »Symphony in C«. Zur jugendfrischen Musik von Georges Bizet einst unter dem Titel »Der Kristallpalast« für Paris entstanden, ist dieses strahlend- virtuose, ebenfalls in Weiß getanzte Ballett ein zentrales Werk der abstrakten Neoklassik und verlangt eine Ballettkompanie in Höchstform.
Die auf Grund des enormen Zuspruchs nochmals erweiterte Tanzreihe im Ludwigsburger Forum am Schlosspark steigt mit einem biblischen und doch brandaktuellen Thema in die Spielzeit ein: Mit »Noah« hinterfragt das Malandain Ballet Biarritz den Mythos der Sintflut in unser heutigen Zeit (12.- 14. 10.). »Indem er die Vergangenheit bewahrt und in die Zukunft schaut, symbolisiert Noah die Geburt einer neuen Welt, die besser ist als die vorherige «, so schildert Chefchoreograf Thierry Malandain die zentrale Idee seines Balletts. Getanzt wird zur »Messa di Gloria« von Gioacchino Rossini, einer zwar andächtigen und religiösen, aber doch ungeahnt dramatischen Musik. In einer ganz persönlichen Mischung aus klarem, neoklassisch grundiertem Ballett und der Ausdruckskraft des zeitgenössischen Tanzes fragt Malandain nach unserem Verhältnis zur Zivilisation und nach der Möglichkeit eines Neuanfangs – in einer Zeit, in der Menschen wieder auf Schiffen ums Überleben kämpfen. »Noah« ist der Auftakt zu einer Spielzeit mit insgesamt elf verschiedenen Tanzgastspielen in Ludwigsburg, darunter das Nederlands Dans Theater (7.-9. 12.), das Karlsruher Ballett (26./27. 1.) und das Aterballetto (23. 2.).
Mit einem höchst abwechslungsreichen Abend in vier unterschiedlichen Spielarten huldigt der neueste Abend von Gauthier Dance den »Grandes Dames« der Bühne; die Premiere war im Juli, von 10. bis 14. Oktober wird der Abend wieder aufgenommen. Zwei Stücke wurden von Frauen choreografiert, die anderen beiden sind weiblichen Ikonen des Tanzes gewidmet und wurden von Männern geschaffen. Die beiden Choreografinnen loten dabei die Extreme wesentlich tiefer ausals ihre Kollegen – einerseits die sanfte Kanadierin Virginie Brunelle mit »Beating«, einem Tanzstück von feiner Anmut über den vereinenden Herzschlag, andererseits die kompromisslose Berliner Tanzregisseurin Helena Waldmann, die durch Abende wie »Letters from Tentland« oder »Gute Pässe schlechte Pässe« bekannt wurde. Ihr Stück »We Love Horses« beginnt mit lautem Peitschenknallen und blendet in seiner Frage nach unserer Lust auf Gehorsam die Bewegungsästhetik von Dressurreiten, Sado-Maso und Ballettsaal ineinander. Eine Domina auf Pferdefuß-artigen Stelzen ist nicht die einzige Überraschung
Marco Goecke, der langjährige Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, stammt aus Wuppertal und verehrt seit früher Jugend die Tanztheaterikone Pina Bausch – ihr gilt seine Hommage mit dem suchenden und doch zuversichtlichen Solo »Infant Spirit«, choreografiert zu Songs der Gruppe Antony and the Johnsons. Das lichtblitzende »Electric Life« ist der Tänzerin Louise Lecavalier gewidmet, die als »kanadischer Tanztorpedo« mit horizontal gedrehten Schrauben und ihrer wahnwitzigen Attacke bekannt wurde. Eric Gauthier und sein griechischer Choreografenkollege Andonis Foniadakis schufen ein lichtblitzendes, athletisches Stück. Die unendliche Energie von Gauthiers wandlungsfähiger Truppe sieht dabei atemberaubend aus.xx Und wer jetzt immer noch nicht genug hat, kann Ballett auch im Kino anschauen. Seit mehreren Jahren werden ausgewählte Vorstellungen des Bolschoi-Balletts und des Royal Ballet aus London live in unsere Kinos übertragen – hauptsächlich Klassiker, aber auch seltenere Werke und moderne Ballettabende. Am 15. Oktober kommt mit Kenneth MacMillans »Mayerling« ein interessantes Werk auf die große Leinwand des Scala in Ludwigsburg, denn der Abendfüller über das tragische Ende von Sissis einzigem Sohn, dem österreichischen Thronfolger Rudolf von Habsburg, wird ein halbes Jahr später auch beim Stuttgarter Ballett live zu sehen sein. Im Kino präsentiert das Royal Ballet die ursprüngliche Inszenierung mit einer aufwendigen, dezent plüschigen Ausstattung von Nicholas Georgiadis. In Stuttgart wird dann im Mai die gleiche Choreografie gezeigt, aber mit brandneuen, dunkleren Kostümen und Bühnenbildern des großen Jürgen Rose, der die prachtvollen Designs für »Onegin« oder »Die Kameliendame« geschaffen hat. Zur Vorbereitung auf die nicht unbedingt einfachen Habsburger Familienverhältnisse und zum Vergleich mit der neuen Ausstattung lohnt sich ganz sicher ein erster Blick auf leidenschaftliche Pas de deux mit Mary Vetsera und auf einen Kronprinz, der mit Totenschädel und Pistole jongliert. Wer behauptet eigentlich, dass Ballett immer nur Märchen zeigt?
Angela Reinhardt