Die Ohren dem Genuss öffnen
Beethovens Violinkonzert und seine Interpreten: Eine Betrachtung
Zur Uraufführung von Beethovens Violinkonzert am 23. Dezember 1806 in Wien schrieb der Kritiker Johann Nepomuk Möser: »Über Beethovens Concert ist das Urteil von Kennern ungeteilt, es gesteht demselben manche Schönheit zu, bekennt aber, dass der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und dass die unendlichen Wiederholungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten. Die Musik könne sobald dahin kommen, dass jeder, der nicht genau mit den Regeln und Schwierigkeiten der Kunst vertraut ist, schlechterdings gar keinen Genuss bei ihr finde.« Dieses negative Urteil hat lange Zeit die Meinungen bestimmt. Die Musikwelt war überfordert mit diesem Werk, das formal völlig neu und seiner Zeit weit voraus war.
Solist der Uraufführung war der 28-jährige Geiger Franz Clement, von dem man heute weiß, dass er wohl nicht die notwendige Zeit hatte, um den schwierigen Solo-Part einzustudieren, vieles muss er vom Blatt gespielt haben. Dennoch wird die Uraufführung vom Publikum bejubelt, was aber zunächst keine Nachwirkung hat, denn die meisten Geiger machen einen großen Bogen um das Konzert. Erst vierzig Jahre später, dank dem damals 12-jährigen Geigen-Wunderkind Joseph Joachim, wird Beethovens Violinkonzert ins kollektive Bewusstsein gehoben. Die meisten Geiger vor allem des 19. Jahrhunderts betrachten das Werk daraufhin als Virtuosenfutter, nach dem Motto »lauter, schneller, eindrucksvoller«.
Eine entscheidende Zäsur stellt die Arbeit von Rudolf Kolisch und René Leibowitz dar. 1954 äußert der Geiger Kolisch, dass das Werk durch die Tradition des späten 19. Jahrhunderts regelrecht entstellt sei und dass man es wieder zu seinen Ursprüngen zurückführen müsse. Gründliche Studien zur Gestaltung der Solostimme, zur Satztechnik, zum Orchesterapparat, vor allem zu Tempo und Phrasierung sollten zu einer maßstabsetzenden Aufnahme führen, die allerdings erst ein Jahrzehnt später realisiert werden konnte. Wegweisend ist diese Interpretation geworden, da sie allen nachfolgenden Geigern eine Fülle an spieltechnischen Möglichkeiten an die Hand gab, die zu einer differenzierten Ausdrucksweise führen sollten.
Damit wird der Weg für eine subjektive Deutung eröffnet, die nach dem »Mehr« sucht, das nicht direkt in den Noten steht. Von Isaac Sterns Einspielung aus dem Jahr 1965 über Anne-Sophie Mutters Interpretation mit Karajan aus dem Jahr 1980 bis hin zu der sehr freien Auslegung eines Nigel Kennedy spannt sich ein Bogen, bei dem man oft den Eindruck hat, dass viel von außen in das Werk hineingedeutet wird, was um die Begriffe »Emotion«, »Schicksal«, »Ich« kreist.
Den Gegenpol dazu bilden Gidon Kremers Version von 1980 und Isabelle Fausts historisch informierte, zugleich Maßstäbe setzende Lesart: Klarheit, Formbewusstsein, Exaktheit im Umgang mit dem Notentext prägen diesen Traditionsstrang. Dem Hörer werden regelrecht die Ohren geöffnet und man erlebt das, wovon Kolisch geträumt hatte, was er aber mangels geigerischem Talent nicht selbst realisieren konnte.
Aus dieser geigerischen Schule kommt auch Thomas Zehetmair, der viel Erfahrung mit dem Beethoven-Konzert hat, es auch schon mit dem Alte-Musik-Spezialisten Frans Brüggen aufgenommen hat. Bei ihm darf man mit einer kenntnisreichen, das eigene Ich immer in den Dienst der Musik stellenden Aufführung rechnen, zumal er im Dreikönigskonzert des Stuttgarter Kammerorchesters die Doppelrolle als Solist und Dirigent erfüllen wird.
Markus Dippold