Die Frau von Morgen im Blick
Seine maskenhaften Gesichter sind weltbekannt. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt eine andere Seite von Amedeo Modigliani
Psychologen würden vermutlich sagen: Der Mann hatte ein Problem mit dem weiblichen Geschlecht. Denn es gehört schon eine gewissen Besessenheit dazu, sich ein Leben lang fast nur mit Frauen zu beschäftigen. Gerade mal vier Landschaften hat Amedeo Modigliani gemalt, aber zahllose Frauenakte und Porträts. Anmutig, aber doch auch eigenwillig wirken diese vielen Frauen und Mädchen. Die Köpfe sind in die Länge gezogen und die Hälse lang, sehr lang.
Das Publikum war zunächst nicht begeistert von diesen Frauen mit Schwanenhals und Mandelaugen. Als der Maler 1908 und 1909 in Paris im Salon des Indépendants ausstellte, interessierten sich Sammler und Händler nicht für ihn. Heute sind vor allem seine Akte gefragt auf dem Kunstmarkt. Auch die Staatsgalerie Stuttgart besitzt eine dieser begehrten Arbeiten, den „Liegenden Frauenakt mit weißem Kissen“ (1917). „Er gehört zu den Höhepunkten der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart“, sagt die Direktorin Christiane Lange. Deshalb wurde das Bild zum „Ausgangspunkt“ für eine Sonderausstellung zu Modigliani: „Moderne Blicke“.
Denn hinter seinen ganz typischen Menschendarstellungen steckt mehr, als man bisher meinte. „Was ich suche, ist weder das Wirkliche noch das Unwirkliche, sondern das Unterbewusste“, sagte der Maler. Aber indem er seine Zeitgenossinnen aus seinem Umfeld porträtierte, erzählt der Maler auch viel von der Emanzipation Anfang des 20.Jahrhunderts. Er malte Modeschöpferinnen und Malerinnen, die wie ein Vorgriff auf die „Neue Frau“ wirken, die in den Zwanziger Jahren Furore machen wird.
So wird in der Ausstellung auch eine Serie ausgestellt, in der Modigliani ab 1915 Frauen in Männerkleidung und mit Kurzhaarfrisur zeigt. Damit beleuchtet die Schau das Werk Modiglianis aus einer neuen Perspektive und macht bewusst, dass die von ihm portraitierten Künstlerinnen eben auch mitten im Leben standen und in der kosmopolitischen Szene in Paris ein- und ausgingen. Es sind durchaus selbstbewusste und emanzipierte Frauen.
Amedeo Clemente Modigliani war Teil der modernen Kunstszene in Paris. Geboren wurde er Juli 1884 in Livorno. Die Familie Modigliani gehörte dem aufgeklärten jüdischen Bürgertum an und war liberal und gebildet. Als Kind erkrankte Modigliani an einer schweren Rippenfellentzündung und soll im Fieber von einer Künstlerkarriere geträumt haben, sodass die Eltern ihm erlaubten, die Schule abzubrechen und ein Kunststudium zu beginnen.
Modigliani liebte die italienische Kunst und die Florentiner Renaissance und zog als junger Mann nach Venedig, wo er sich allerdings weniger mit dem Kunststudium befasste, sondern Haschisch rauchte und an spiritistischen Sitzungen teilnahm. Als er Bilder der französischen Impressionisten sah, zog er nach Paris, wo er in Armut lebte und gern als „fahrender Geselle“ bezeichnet wurde, während er das unstete Leben schick fand.
Constantin Brâncuşi war sein Nachbar und ermunterte ihn, auch bildhauerisch zu arbeiten. Und diese schlichten Köpfe, die Modigliani nun fertigt, gefallen, weil der Trend der Zeit zur Reduktion und zum Einfachen geht. Letztlich bleibt er aber doch der Malerei treu und porträtiert zahllose Maler, Bildhauer, Dichter, Literaten, Kunstsammler und Kunsthändler seiner Zeit. Ihn interessiert dabei nicht das Innere der Menschen, sondern ihre Haltung.
So wirken die Porträtierten oft maskenhaft und wie seelenlos, was auch den Augen liegt, die oft keine Pupillen haben und blind scheinen.
In Paris beginnt er auch, Frauenakte zu malen. Sie entsprachen aber nicht dem Zeitgeschmack, sondern schockierten. Einige Zeitgenossen warfen dem Künstler vor, nicht fortschrittlich genug zu sein, schließlich experimentierten Künstler wie Picasso in der Zeit mit dem Kubismus und zertrümmerten die Motive regelrecht, um sie dann wie neu zusammenzusetzen. Modigliani entwickelte dagegen seinen ganz eigenen Stil.
Der Künstler wurde gerade mal 35 Jahre alt und hinterließ ein umfangreiches künstlerisches Werk als Bildhauer und Maler. Die Staatsgalerie Stuttgart will dieses Werk nun auch in den Kontext anderer Künstler der Zeit stellen und zeigt Modigliani im Dialog mit deutschsprachigen Kollegen wie Lehmbruck, Klimt, Schiele, Kirchner und Modersohn-Becker. Damit, sagt Nathalie Lachmann, Kuratorin an der Staatsgalerie, wolle man verdeutlichen, „dass bereits während des Ersten Weltkriegs und nicht erst in den 1920er Jahren ein ,Zurück zur Figur’ in verschiedenen europäischen Städten formuliert wurde.“
ADRIENNE BRAUN
Modigliani: Moderne Blicke
24.11.2023 – 17.3.2024
Staatsgalerie Stuttgart
Ausstellungsführungen // 7.u.9. Dezember 2023; 22. u. 24. Februar 2024; 7.u.9.März 2024