Das Stück zum Buch
»Der Steppenwolf«, »Amerika«, »Lotte in Weimar« – auch in Stuttgart boomen Romanbearbeitungen
»Sie werden hundertmal gehört haben, dass man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen«, schreibt Johann Wolfgang Goethe 1797 an den Freund Friedrich Schiller. Um dann allerdings fortzufahren: »Und wie viel schlechte Dramen sind daher entstanden. « Roman und Theater gehorchen unterschiedlichen Gesetzen, die man nicht vermischen sollte, lautet das Resümee, zu dem die beiden Klassiker in ihrem Meinungsaustausch gelangen. Das Theater setzt auf unmittelbare sinnliche Gegenwart, der Roman dagegen erzählt auf distanzierte Weise von einer vergangenen Welt. Schaut man heute auf die Programme unserer Thea ter, so scheinen diese Unterschiede so gut wie vergessen, denn seit Jahren erleben wir einen Boom von Bühnenfassungen erfolgreicher Romane. Wahrscheinlich war Frank Castorf von der Berliner Volksbühne der Urheber dieses Trends, als er vor knapp zwanzig Jahren die großen Dostojewski- Romane aufs Theater brachte. Seither gibt es kein Halten mehr: Von Thomas Manns »Buddenbrooks« bis zu Tolstois »Anna Karenina«, von Storms »Schimmelreiter « bis zu Döblins »Berlin Alexanderplatz« blieb kein bedeutendes Werk der letzten zweihundert Jahre von dieser Bearbeitungsmanie verschont. Man kennt Literaturadaptionen aus der Oper – Bizets »Carmen« beruht auf einer Novelle von Prosper Mérimée, Puccinis »La Bohème« auf einem Roman von Henri Murger – und vom Film, der sich seit seinen Anfängen im Fundus der Weltliteratur bedient hat. Das ist nicht zuletzt bequem fürs Publikum: Wer ins Kino oder Theater geht, muss die entsprechenden Romane nicht mehr lesen. Auch den Bühnen bringt diese Praxis Vorteile: Wenn es nicht genügend zeitgenössische Dramen gibt, man nicht immer die bekannten Klassiker zeigen will und Ausgrabungen vergessener Stücke scheut, kann man sich mit Romanbearbeitungen aushelfen. Auf den Stuttgarter Bühnen sind in nächster Zeit gleich drei davon zu sehen. Im Schauspielhaus haben am 10. März Hermann Hesses »Der Steppenwolf « in der Bühnenfassung von Joachim Lux (Inszenierung: Philipp Becker) und am 13. April Franz Kafkas »Amerika« (Inszenierung: Lilja Rupprecht) Premiere. Das Alte Schauspielhaus schließt sich am 27. April mit John von Düffels Bearbeitung von Thomas Manns »Lotte in Weimar« an (Inszenierung: Lajos Wenzel). »Lotte in Weimar«, 1939 veröffentlicht, erzählt vom Besuch von Goethes gealterter Jugendliebe Charlotte Buff in Weimar im Jahr 1816. Thema des Romans ist der unnahbare Dichterfürst Goethe, der zuerst indirekt durch Personen aus seinem Hofstaat charakterisiert wird, bis er dann im zentralen siebten Kapitel in einem langen inneren Monolog über sein Leben und Werk reflektiert. Hesses »Steppenwolf«, 1927 erschienen, beschäftigt sich mit der Midlifecrisis von Harry Haller, der zwischen der bürgerlichen Welt vor 1914 und dem wilden Leben voller Sex and Drugs in den Roaring Twenties eine neue Identität finden muss. Kafkas Fragment gebliebener Roman »Amerika« schließlich, entstanden in den Jahren 1911 bis 1914, verfolgt das Schicksal des 16-jährigen Karl Roßmann, der in die USA auswandert und dort sozial immer weiter absteigt, bis sich ihm in der Mitwirkung an einem Theaterprojekt in Oklahoma doch noch eine positive Perspektive eröffnet. Perspektive ist ein wichtiges Stilmittel aller drei Romane: der Surrealismus von Hesses »Steppenwolf «; die beängstigende Innensicht, aus der heraus Karl Roßmann auf Amerika blickt; die »Imagination « des Lesers, von der Goethe spricht. Die drei angekündigten Bühnenbearbeitungen werden zeigen, auf welche Weise sie mit den Mitteln des Theaters die Eigenart der jeweiligen Romanvorlage umzusetzen verstehen.
Rolf Spinnler