Brisante ethische Fragen
Das Alte Schauspielhaus kritisiert in einem dystopischen Stück Rating-Wahn und Selbstoptimierung
Ob der Traumpartner, der Job, der Kredit fürs Eigenheim oder die Familienplanung – in Ella Roads Theaterstück „Die Laborantin“ von 2019 hängt in einer zukünftigen Gesellschaft alles von der Bewertung ab. Die Einstufung wiederum stützt sich auf einen Bluttest, der Erbkrankheiten und die Wahrscheinlichkeit, psychisch oder körperlich zu erkranken, vorhersagt. Der Erstling der jungen britischen Autorin und Schauspielerin Ella Road wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, zählt in Deutschland zu den meistgespielten Theaterstücken und ist nun im Alten Schauspielhaus zu erleben.
Es wirft zahlreiche ethische Fragen auf. „Wir haben es weitestgehend akzeptiert, dass wir Teil einer Gesellschaft sind, in der die Selbstoptimierung zu einer Grundverabredung geworden ist“, erläutert der Regisseur Martin Schulze die Wahl des Stücks. Gelinge es nicht, die eigene Fitness, Psyche und Leistungsfähigkeit zu optimieren, würde der einzelne dafür verantwortlich gemacht, sagt Schulze und zitiert den Philosophen Byung-Chul Han aus seinem Buch „Die Palliativgesellschaft. Schmerz heute“ von 2020: „Das Glücksdispositiv vereinzelt die Menschen und führt zur Entpolitisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft.“ Depression statt Revolution sei die Folge. Statt die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen und zu ändern, doktere jeder an seiner Seele herum.
Im Mittelpunkt des Stücks stehen vier Figuren, die ganz unterschiedlich auf die herausfordernden gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren. Da ist die erfolgsfixierte Bea, die als Laborantin in einer großen Klinik arbeitet und Blutproben für die Ratings untersucht, an der die ganze Lebensgestaltung hängt. Bea und ihr Freund Aaron sind mit Werten von 7,1 und 8,9 eigentlich ganz oben angesiedelt, und einer Karriere und baldigen Familienplanung steht nichts im Weg. Ganz anders im Fall von Beas Freundin Char, die nur ein Rating von 2,0 erhalten hat. Doch Bea hilft ihr heimlich, das Ergebnis zu manipulieren, und erschließt sich damit einen lukrativen Job. Ist hier die Möglichkeit einer Revolte angedeutet oder profitiert sie von dem System? Auch Aaron ist eine ambivalente Figur, denn er hat ein Geheimnis, wie auch die vierte Person – David. Aufgrund des Rating-Wahns regieren in den menschlichen Beziehungen bald Betrug und Misstrauen.
„Die Komplexität der Figuren ist hoch, sie handeln aus sehr unterschiedlichen Motivationen und Biografien heraus, die sich den Zuschauern erst nach und nach erschließen“, sagt Martin Schulze, der für die Schauspielbühnen 2018/19 als erste Regiearbeit „Maria Stuart“ inszeniert hat. Sie wurde mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Die Rolle der Bea übernimmt Josepha Grünberg, die sich mit der Darstellung der Holly Golightly in der Produktion "Frühstück bei Tiffany" einen Namen gemacht hat. Für diese bekam sie in der Spielzeit 2021/22 den Publikumspreis der Schauspielbühnen zugesprochen. Sie war an Theatern in ganz Deutschland vom Nationaltheater Weimar bis zum Theater Heidelberg engagiert und spielt auch im Jungen Ensemble Stuttgart.
In Ella Roads Stück verbinden sich auf überzeugende Weise Krimi, Dystopie und Liebesgeschichte. „Eine gute literarische Erzählung enthält sowohl etwas von der Liebe, enthält kriminelle Energie und enthält eine Reflexion über die Art unseres Zusammenlebens“, sagt Martin Schulze. Die erzählte Zeit umfasst rund sieben Jahre, und die Schauplätze sind sehr heterogen, doch Schulze und die Bühnenbildnerin Ariane Scherpf haben für das Bühnenbild eine bewegliche Lösung gefunden.
Die gesellschaftliche Entwicklung schildern sie mit Video in Roads Zwischenspielen auf Projektionswänden. Nachrichten und Werbung eröffnen eine globale Perspektive und beleuchten die Gefahren und Chancen der Bluttests. „Alle Erfindungen und Errungenschaften haben stets positive und negative Effekte“, sagt Martin Schulze. Werden die Figuren versuchen, die Entwicklung einzufangen und Widerstand zu leisten?
Anne Abelein
Die Laborantin
2., 3., 4., 9., 10., 12., 16., 20., 23., 30. Mai
Altes Schauspielhaus
Karten für Mitglieder: 11-21 Euro