Aufgebot absurder Schachfiguren
Surreales Tanzstück über Diktaturen im Forum Ludwigsburg
In Demis Volpis Handlungsballett „Geschlossene Spiele“ für das Ballett am Rhein tummeln sich eine ganze Reihe skurriler Personen auf der Bühne. Ein Richter, der pedantisch Möhren abwiegt, ein weiß gewandeter Gast, der mit Gegenständen wie Schachfiguren Gott spielt, aus der Zeit gefallene Kaffeehauskellner und sogar ein Hühnchen. Nichts funktioniert wie es soll in diesem kafkaesken, argentinischen Lokal. Koffer werden vergeblich aufgeben, eine Touristin scheitert mit ihren Bestellungen an der Sprache, und zwei junge Revolutionäre mit Flugblättern agieren planlos.
Demis Volpi ist seit Beginn der Spielzeit 2020/21 Ballettdirektor und Chefchoreograph des Balletts am Rhein und damit Nachfolger von Martin Schläpfer. Bis 2017 war er Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Die Zuschauer kennen ihn zum Beispiel von seinem gefeierten ersten Handlungsballett „Krabat“ von 2013. Auch als Opernregisseur trat er in Erscheinung und inszenierte in Koproduktion der Staatsoper Stuttgart, des Stuttgarter Balletts und der John Cranko Schule 2017 Benjamin Brittens „Tod in Venedig“. Der mehrfach ausgezeichnete Choreograf (2014 erhielt er zum Beispiel den Deutschen Tanzpreis Zukunft, 2019 bei der Konex Award Preisverleihung in Buenos Aires das Merit Diploma) hat außerdem für mehrere amerikanische Kompanien wie für das American Ballet Theatre und das Ballet de Santiago de Chile Choreografien geschaffen.
Sein aktuelles Stück „Geschlossene Spiele“ fußt auf dem Stück „Nada a Pehuajó“ von Julio Cortázar, das auf absurde Weise die Militärdiktatur von J. R. Videla auseinandernimmt. Wie ist das Team auf das ungewöhnliche Stück verfallen? „Wir hatten bereits vorher oft über den magischen Realismus gesprochen“, erinnert sich der Dramaturg Maurice Lenhard. Der in Argentinien gebürtige Demis Volpi dachte an Jorge Luis Borges, Lenhard brachte Julio Cortázar ins Spiel. Dann stießen sie auf „Nada a Pehuajó“. „Nach ein paar Seiten war mir schnell klar, dass das etwas sein könnte“, so Lenhard. Als das Stück sie auf Anhieb zu einer dreistündigen Diskussion anregte, waren sich Volpi, er, die Bühnenbildnerin Heike Scheele und Katharina Schlipf, die schon Krabat ausgestattet hatte und sich für die Kostüme verantwortlich zeichnet, sicher.
Die Bühne von Heike Scheele mit Holzvertäfelungen, einer Bahnhofsuhr und einer ausgeklügelten Beleuchtung durch versteckte Neonröhren ist in einem ungewissen Nirgendwo angesiedelt und könnte nicht umsonst auch für andere Räume und Zeiten stehen. „Cortázar hat das Stück vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Militärdiktaturen in Argentinien (und anderen Ländern Südamerikas) geschrieben. Dass wir vor einem Abrutschen in autoritäre, rechtspopulistische Regierungen nicht hundertprozentig gefeit sind, haben die letzten Jahre ja erschreckend eindrücklich bewiesen“, meint Lenhard.
Der Spielleiter im Stück ist ein mysteriöser Mann in Weiß, der Objekte wie Weinflaschen und Pfefferstreuer über ein imaginäres Spielfeld auf seinem Café-Tisch schiebt. „Seine Schachzüge beeinflussen die Bewegungen aller im Raum“, sagt Maurice Lenhard. Und so tanzen die Figuren – Kellner, Kaffeehausgäste, Touristen – nach seiner Pfeife, ohne dass sie jemals mit ihm interagieren würden. Über ähnlich viel Macht verfügt der faschistoid anmutende Richter mit seinen akkurat zurückgegelten Haaren. Er unterzieht sich einer strengen Möhrendiät, um seine Urteilsfähigkeit zu schärfen. Doch hat er einen Mann unschuldig hinrichten lassen, wie Radiobeiträge nahelegen. Wird er sich seinem Irrtum stellen? Handelt es sich bei den Szenen im Raum womöglich um seine Visionen? „Das Stück fragt humorvoll und doch pointiert, ob ein gerechtes Justizsystem überhaupt möglich ist“, so Lenhard. Der Gewissenszwist des Richters spiegelt sich auf groteske Weise in einer Szene mit einem neureichen Gast, der von einem lebendigen Hühnchen die Erlaubnis erhalten will, es zu verspeisen. Dieses gibt dann den sterbenden Schwan.
Das Ballett vereint unterschiedlichste Tanzstile wie Street Dance, Tango und Rock’n’Roll. Die amerikanische Touristin geriert sich erst im Stile des Country-Stars Dolly Partons, um dann in einem Tutu mit einem Solo auf Spitze zu überraschen. Ähnlich variantenreich ist die Musik, die von Radiomusik über Live-Auftritte eines Barpianisten bis hin zu Eliott Carters „Eight Pieces for Four Timpani“ reicht. Die Proben waren von Covid-19 und den Lockdowns und Proben in Kleingruppen oder allein erschwert. „Auch deswegen haben wir dieses Stück gewählt. Die Figuren kreisen über weite Strecken um sich selbst“, so der Dramaturg Maurice Lenhard. Ohne konkrete Perspektive die Motivation aufrechtzuerhalten war nicht einfach. „Die Aussicht eines Premierentermins wirkt doch Wunder der Energie und der Kreativität“, sagt Lenhard. Die brachen sich dann Bahn, als die Uraufführung am 1. Oktober 2021 anstand. Die „Geschlossenen Spiele“ sind am 14. und 15. Januar in der Reihe „Universum Tanz“ in Ludwigsburg zu erleben.
Anne Abelein