Auf der Flucht vor der Fuge
Jörg Widmann präsentiert mit dem Stuttgarter Kammerorchester eigene Musik neben Werken von Mozart und Mendelssohn
Stuttgarter Kammerorchester
3. April, Liederhalle, Hegel-Saal, 19:30
Werke von Mendelssohn Bartholdy, Mozart, Widmann
Karten für Mitglieder: 22 bis 46 Euro, freier Verkauf: 28 bis 60 Euro, Ermäßigung für SchülerInnen und Studierende
Die musikalische Gattungsbezeichnung „Fuge“ ist vom lateinischen Wort „fuga“ abgeleitet, das seiner ursprünglichen Bedeutung nach für „Flucht“ steht. In der Entwicklung der europäischen Kunstmusik der letzten Jahrhunderte hat sich das kompositorische Modell der Fuge als Königsdisziplin strenger kontrapunktischer Organisation eines Tonsatzes herausgebildet. Der 1973 in München geborene Komponist, Klarinettist und Dirigent Jörg Widmann bekennt offen, dass er dieser in seiner Zunft seit jeher hochgehaltenen Disziplin lange mit „Fluchttendenzen“ begegnet sei, obwohl sie ihm schon während seines Studiums von allen seinen Lehrern immer wieder nahegelegt worden sei.
Widmann hat zunächst an der Münchner Musikhochschule und später an der Juilliard School in New York studiert. Wichtige Kompositionslehrer von ihm waren Hans Werner Henze, Wilfried Hiller, Heiner Goebbels und Wolfgang Rihm, der ihm ein Klarinettenkonzert gewidmet hat. Auf die Frage nach Vorbildern nennt Widmann so unterschiedliche Musiker wie Mozart, Schumann, Alban Berg oder Miles Davis. Den Bläser- und Komponistenkollegen Heinz Holliger bezeichnet er als „Bruder im Geiste“. Bei Wettbewerben gewann er als Instrumentalist ebenso wie als Tonsetzer zahlreiche renommierte Preise. Längst ist er einer der erfolgreichsten deutschen Komponisten seiner Generation.
Als Henze ihm einschlägige Kontrapunktübungen des „Gradus ad Parnassum“ von Johann Joseph Fux aus dem 18. Jahrhundert empfahl, habe er einen Bogen um das bis heute als Standardwerk geltende Lehrbuch gemacht. In jugendlichem Alter sei ihm das damals wie „saures Bier und Schwarzbrot“ vorgekommen. Erst später habe ihn das starke Gefühl eingeholt, er sollte nun diese polyphonen Techniken beherrschen. So habe er sich zwischen 2002 und 2006 „reingekniet“ und plötzlich eine wahre Begeisterung für die Fuge entwickelt. Eine Frucht seiner Beschäftigung damit sei sein fünftes Streichquartett, das er bewusst als „Versuch“ über diese Form, als „Befragung“ ihres Wesens angelegt habe.
Mit dem Stuttgarter Kammerorchester (SKO) präsentiert Widmann nun am 3. April im Hegel-Saal der Stuttgarter Liederhalle neben Werken von Felix Mendelssohn Bartholdy und Wolfgang Amadé Mozart eine instrumental erweiterte Version dieses Streichquartetts (19 Uhr 30). Schon die 2005 entstandene Partitur der Erstfassung sieht ergänzend zu den gattungsüblichen vier Streichern noch einen Sopran vor. Zehn Jahre danach hat Widmann, der bis 2016 als Professor für Klarinette und Komposition an der Freiburger Musikhochschule wirkte und 2017 eine Professur für Komposition an der Barenboim-Said-Akademie Berlin übernahm, seinen „Versuch über die Fuge“ für Sopran, Oboe und Kammerorchester „aufgestockt“.
Schon bei der Kölner Uraufführung mit dem WDR-Sinfonieorchester unter Widmanns Leitung im Januar 2020 übernahm die Sopranistin Sarah Maria Sun, die nun auch im SKO-Konzert der Kulturgemeinschaft singt, den Vokalpart. Der Text stammt aus einer lateinischen Übersetzung des alttestamentarischen Prediger-Buchs und kreist um die Vanitas-Thematik. Für Widmann hat die dem Weisen Salomo zugeschriebene Weltsicht („Alles ist eitel“, „Nichts neues unter der Sonne“) eine fast fatalistische Note. Dem ewig wiederkehrenden Weltlauf entsprechen in der Partitur in sich kreisende Gebilde mit streng bis zum Exzess kanonisch geführten Stimmen.
Solcher Hermetik sucht das Stück, das sich am Prinzip Fuge abarbeitet, aber nie zu ihm durchdringt, zu entkommen. Fugato-Anläufe bleiben immer wieder stecken, brechen ab und sind quasi auf der Flucht vor der Fuge darauf angewiesen, Energie für ein Weiterfließen der Musik jenseits von kontrapunktischen Strukturen zu beziehen. Den für Widmann „erschütternden“ Aussagen des lateinischen Textes wird schließlich in deutscher Sprache eine ebenfalls aus dem Prediger-Buch entlehnte Frage entgegengehalten: „Fern ist der Grund der Dinge und tief - wer will ihn finden?“ Der Oboenpart fungiert in dieser Fassung als „Alter ego“ und reflektierendes Pendant zur Sopranstimme.
Die Kombination von Widmanns eigenem „Versuch“ mit Mozarts Adagio und Fuge c-Moll (KV 546) verweist auf dessen späte, von Mühen nicht freie Auseinandersetzung mit jener Königsdisziplin, in der Mendelssohn bereits früh eine von Widmann grenzenlos bewunderte Meisterschaft erreichte, ohne in bloße Stilkopie-Muster zu verfallen. Während zu Beginn des SKO-Konzerts die 1829/30 komponierte „Hebriden“-Ouvertüre vom souveränen Umgang des jungen Mendelssohn mit dem Orchesterapparat zeugt, demonstriert dessen „Reformations-Symphonie“ aus derselben Zeit eine stupende Beherrschung kontrapunktischer Techniken besonders im Finalsatz beim eingeflochtenen „Dresdner Amen“ von Johann Gottlieb Naumann und beim triumphal als protestantisches Credo intonierten Luther-Choral „Ein feste Burg“.
Werner M. Grimmel